Der ehemalige OGH-Präsident Johann Rzeszut glaubt, dass Soko-Chef Franz Kröll vor dem Suizid "schwere innere Kämpfe austrug".

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Untersuchungen durch Justiz und Parlament lassen den Höchstrichter in Pension hoffen, sagte er Colette Schmidt.

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Standard: Werner Peischl, Leiter der Wiener Oberstaatsanwaltschaft, und Thomas Mühlbacher, Leiter der Grazer Staatsanwaltschaft, nannten Ihre Vorwürfe, wichtige Hinweise in der Causa Kampusch ignoriert zu haben, als "völlig aus der Luft gegriffen" ...

Johann Rzeszut: Für die Staatsanwaltschaft war von Anfang an alles Luft, was nicht zur Darstellung der Natascha Kampusch gepasst hat. Was natürlich menschlich verständlich ist, aber mit der Verpflichtung, die objektive Wahrheit zu ermitteln, nicht im Einklang steht.

Standard: Welche Fragen blieben offen?

Rzeszut: Zuerst die langjährig konstanten Angaben der einzigen Tatzeugin, wonach es einen zweiten Täter gab. Das ist eine Zeugin, deren Angaben sich durchwegs als richtig erwiesen haben: die Tatsache der Tat, der Tatort, der Zeitpunkt und der weiße Kastenwagen. Die Zeugin hielt in sechs Polizeivernehmungen daran fest. Aber das Opfer sagt, es war ein Täter, und alles andere ist für die Staatsanwaltschaft ohne Bedeutung.

Standard: Die Zeugin wurde nie von der Justiz einvernommen. Am 3. Dezember 2009 gab es auf Druck der Kommission aber die Gegenüberstellung mit Kampusch. Wieso hat die Zeugin ihre Beobachtung da nicht bekräftigt?

Rzeszut: Die Zeugin wurde auf ihre früheren Angaben einfach nicht angesprochen. Sie hatte ersichtlich unter dem Druck der Konfrontation mit dem Opfer, dessen Rechtsanwalt und Psychologen, Hemmungen. Das sagte sie auch wörtlich: Sie wollte Kampusch nicht "der Lüge zeihen". Und sie meinte, sie könne nun ruhig schlafen und müsse keine Angst mehr vor dem zweiten Täter haben.

Standard: Warum sprach der Chef-Ermittler der Polizei, Franz Kröll, bei der Gegenüberstellung frühere Aussagen der Zeugin nicht an?

Rzeszut: Er wurde zwischen 19. November und 3. Dezember extrem unter Druck gesetzt. Davor meinte er noch in einem Mail, wir würden motiviert weiter ermitteln, "auch wenn es manchen Entscheidungsträgern nicht passt". Danach schrieb er, ihm wurde "unmissverständlich nahegelegt, dass das Ermittlungsverfahren zu finalisieren ist". Und finalisieren konnte man nur, wenn man die Zeugin entkräftete. Kröll fragte sonst immer präzise nach, am 3. Dezember nicht. Das war atypisch für ihn.

Standard: Es gibt ein grafologisches Gutachten vom 18. November 2009, wonach Wolfgang Priklopils Abschiedsbrief gefälscht ist. Nahm die Staatsanwaltschaft darauf Rücksicht, bevor sie im Dezember die Ermittlungen schloss?

Rzeszut: Überhaupt nicht. Das wurde ignoriert, als ob es Luft wäre. Das ist auch diese "Luft", in die ich nun angeblich greife.

Standard: Kröll verhörte auch Priklopils Freund und Geschäftspartner, H. , der die letzten Stunden mit Priklopil verbracht hatte ...

Rzeszut: H. wusste auf jeden Vorhalt einer Unschlüssigkeit eine Antwort. Und wenn man sich diese Antworten im Längsschnitt anschaut, gibt es da serienweise Widersprüche.

Standard: Welche konkret?

Rzeszut: Ein gravierender Widerspruch lag darin, dass H. zuerst sagte, Priklopil habe ihm erzählt, er sei wegen eines Verkehrsdeliktes auf der Flucht vor der Polizei. Später erzählte H., er habe ihm doch eine Lebensbeichte abgelegt. Ähnliches gilt für den Transfer von 500.000 Schilling an Priklopil kurz nach der Entführung.

Da hieß es zuerst, das Geld sei übergeben worden, weil Priklopil einen Porsche kaufen wollte. Nachdem H. den Verteidiger gewechselt hatte, (H. wird seit Herbst 2009 von Manfred Ainedter vertreten, Anm.), erklärte er den Geldtransfer und den Rücktransfer rein steuerlich.

Standard: Stimmt es, dass H. völlig ungehindert nach dem Tod Priklopils Dinge aus dem Haus in Strasshof entfernen konnte?

Rzeszut: Ja, er hat verschiedene Gegenstände hinausgetragen und wurde von Beamten zuerst für einen neuen Kollegen gehalten. Er berief sich auf eine mündliche Vollmacht von Priklopils Mutter, die diese aber in Abrede stellte. H. sagte, er habe nur Werkzeug entfernt, das er Priklopil geborgt hätte. Aber das konnte niemand mehr überprüfen. Ein Computer wurde in dem Haus des Nachrichtentechnikers übrigens nie gefunden.

Standard: In einem landeskriminalamtlichen Bericht heißt es, dass das Verlies im Haus in Strasshof nur von innen zu verschließen war. Es gibt auch ein Video davon.

Rzeszut: Es war genau genommen kein Verlies, sondern ein Versteck. In dem Bericht steht, dass die dicke Tür nur mit Druck zu verschließen ist, "was von außen mangels Griff aber nicht möglich wäre, wenn nicht von Innen jemand die Türe verschlossen hätte".

Standard: Nach Krölls Tod im Juni schickten Sie Ihre Bedenken allen Klubobleuten im Parlament. Warum?

Rzeszut: Weil sein Ableben für mich eine weitere Bestätigung dafür war, dass Kröll schwere innere Kämpfe austrug. Die Ursachen dafür lagen in der staatsanwaltlichen Ermittlungsresistenz.

Standard: Im Parlament soll auch Krölls angeblicher Selbstmord untersucht werden. Halten Sie Mord für möglich?

Rzeszut: Wenn es stimmt, dass er sich als Rechtshänder mit beiden Händen in die linke Schläfe geschossen haben soll und dass es zuerst keine Schmauchspuren gab und nun doch welche aufgetaucht sein sollen, dann sind das Punkte, die hinterfragenswürdig sind.

Jeder, der mit Waffen vertraut ist, würde sich zudem in den Mund schießen, weil die Gefahr, bei einem Schuss in die Schläfe zu überleben, zu groß ist. Aber die Last, die Kröll seit Dezember 2009 empfand, ist auch eine Erklärung für einen Selbstmord.

Standard: Machen Ihnen der Unterausschuss und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Innsbruck gegen fünf Staatsanwälte Hoffnung auf Aufklärung?

Rzeszut: Dass meine Erfahrungen, die ich im Rahmen der Evaluierungskommission gemacht habe, nicht für das gesamte staatsanwaltliche Wirken in Österreich typisch sind, darauf vertraue ich fest.

Standard: Wie erklären Sie sich Widersprüche zwischen Ermittlungsergebnissen und Aussagen von Kampusch?

Rzeszut: Sie war bei der Entführung ein hilfloses Kind, das in kriminelle Hände geraten ist. Die Entwicklung, die sie dann durchmachen musste, hatte mit einer normalen Kindheit nichts mehr zu tun. Daher kann man sie auch jetzt nicht dafür verantwortlich machen, wie sie fallbezogen reagiert. (Colette Schmidt, DER STANDARD-Printausgabe, 11./12.12.2010)