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Festival in Guča, 2008

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Der Balkan: das ideelle Mexiko der Euro-Gringos, the last frontier zwischen Halbzivilisation und Sierra, das letzte Freiluftmuseum der Mañanamentalität von Indigenos, denen man die Hoffnung auf morgen nahm sowie die Freiheit, nicht auf Clan und Stamm angewiesen zu sein, chilifeuriger Karneval der Leidenschaften, die unsereins bloß noch aus dem DVD-Verleih kennt, dreckige Antithese zu Mamas und Papas Bregenzer oder Salzburger Antisepsis und durch und durch sexualisierte Wunschprojektion eines aus allen Karstspalten und Raffinerielecken tropfenden Lebenselixiers: Authentizität.

Der Osten ist in. Nicht nur für die Wirtschaft. Er verspricht nicht allein niedrige Steuern und billige Arbeitsplätze, vorsätzlich zerstörte Sozialsysteme und die Goldrauschstimmung der ursprünglichen Akkumulation. Nein, im Tross dieser neuen Landnahme, und das war noch bei jeder kolonialen Expansion so, marschieren nicht nur die Gold-, sondern auch die Sinnsucher mit, im Windschatten eines jeden Raiffeisen- und Bank-Austria-Arsches also immer auch ein paar Künstler, Diskursmeier und Kulturfunktionäre - auf der Suche nach Tragödie, Unmittelbarkeit, schlechter Schminke ... - und lecken den Wut-, Angst- und Partyschweiß aus den Achseln der Depravierten.

Der Balkan ist anscheinend angesogen mit jenem magischen Ferment, das abbröckelnde Plattenbaufassaden, rostige Industrieruinen und die tragischen Zwänge halb bäuerlicher, halb urbaner Gesellschaften in Poesie verwandelt - und in ideelle Wichsvorlagen für den frustrierten Modernisten und den verkappten Konservativen in uns. Für uns Gringos, die Balkan-Idioten, oder einfach: Karli und Sybille.

Der Balkan ist insofern interessant, als auf ihm sich mindestens drei berüchtigte Exotismen kreuzen: Orientalismus, Mediterranismo sowie Slawophilie - und auch dieser neue Megaexotismus seine unfreiwillige Komik kraft der Illusion entfaltet, nicht das Diapositiv, sondern das Gegenteil von Rassismus zu sein, ja, seinen Cunnilingus an den Authentizitätsdrüsen des Balkans und anderer fiktiver Zurückgebliebistans bei der moralischen Jahresabrechnung sogar als antirechten Widerstand absetzen zu können. Dieser Selbstbetrug ergibt sich aus folgender Kalkulation: BZÖ-Mama und ÖVP-Papa hassen Tschuschen, deshalb liebe ich Tschuschen, Bürgermama und Bürgerpapa lieben Ordnung, deshalb hasse ich Ordnung. Und als österreichische Provinzvariante: Mama und Papa sind Tiroler, deshalb verliebe ich mich in fremde Bodenständigkeit. Aber wehe, Tschusch, wenn du mir nicht zugleich tschuschisch, chaotisch und bodenständig sein willst ... Ein grausames Double-Bind zwingt den Balkan-Immigranten Landler für die Rechten, Kolo für die Linken zu tanzen - selbst wenn er beides hasst.

Der tiefere Sinn der Balkanfiesta liegt für den Balkan-Idioten zweifellos in der Befreiung von den emanzipatorischen Errungenschaften der Neuzeit. Im Fiestarausch dürfen Pazifisten „Ka-la-sch-ni-kov" skandieren, Vegetarier herzhaft ins Spanferkel beißen, Nickelbrillen-Karlis auf Dragutin machen, Feministinnen ihm verschämt kichernd „Geh in Mutterns Fotze" zuulken und wohlbehütete Schafe endlich mit den Wölfen heulen. Der Balkan selbst indes hat andere Sorgen.

Die Karl-May-Variante des Balkan-Idioten kommt in Reinform nur noch selten vor, also jener antimodernistische Romantiker, der sich nach Blutrache, Hajduckenehre und der Tragik an die Gestaden der Drina gespülter Agas-Töchter sehnt, die der Zwangsheirat durch stolze Selbstertränkung sich entzogen. Vielmehr ist der authentische Balkan-Idiot eine Mischform, so wie es sein imaginärer Balkan ist, der die ideologische Funktion des Purgatoriums erfüllt zwischen verweichlichter Zivilisation und viriler Archaik. Der Balkan-Idiot liebt es, im harten Überlebenskampf echter Menschen zu baden, in dem Wissen, dass die Bank von zuhause eh um die Ecke eine neue Filiale eröffnet hat. Und Balkan-Folklore liebt er, der Balkan-Idiot, aber genau so liebt er den punkigen Sarkasmus, mit welchem die Lost Generations der Städte jene verspotten. Wie geht denn das zusammen? Weil beides ihm die Essenz ein und derselben toughen Balkanität bedeutet, die sein Wahnbild vom kulturell Anderen durchtränkt wie vor Übermut verschütteter Šljivovica. Wobei wir beim ersten Wesenspunkt der Balkan-Idiotie, ja eines jeden Exotismus wären:

Zwangskollektivierung. Der Balkan-Idiot muss jeden Balkan-Apachen zum Repräsentanten seines Blut- und Boden-Schicksals machen. Der Balkan-Apache hat den Balkan-Idioten von seinem Werteverlust zu kurieren, welcher jeder intelligente Balkan-Apache als Befreiung empfände; und sei es nur der Traum von einer Gesellschaft, in der keine Tante mehr ohne anzuklopfen ins Zimmer schneien darf.

Der Balkan-Idiot liebt gute balkanische Schriftsteller, die ja nachweislich die Weltliteratur um einige Meisterwerke aufgestockt haben, doch er liebt auch die schlechten, weil nicht die Qualität, sondern das Apachische des Literaten entscheidet. Ob sie's wollen oder nicht: Balkan-Apachen haben näher am Stamm und an der Scholle zu sein. Das ist ihre Funktion. Balkanische Künstler werden von balkanidiotischen Institutionen großzügig gefördert, selbst wenn ihre Kunst sich dem Individualismus und Kosmopolitismus verschreibt, aber nur unter der Auflage, dass ihre Kunst uns von ihrer Gesellschaft erzählt. Westliche Kunst hat sich an der subjektiven Entfremdung, Apachenkunst am Kollektivschicksal abzuarbeiten. Selbst die Revolte gegen die Folklore ist den Balkan-Idioten noch irgendwie Bestandteil ebendieser. There's no way out!

Der albanische Soziologe etwa, der über gesellschaftliche Desintegration in Tansania schriebe, würde beim Balkan-Idioten gehöriges Unbehagen auslösen. Für so was fördern wir dich nicht, mein Freund! Selbst bei der Lektüre deiner trockensten Studie wollen wir das saftige Rubato von Hirtenflöten hören.

Ein Bekannter quittierte den Anblick dreier Damen aus Ex-Jugoslawien, deren Wesen unterschiedlicher nicht sein konnte, mit der hechelnden Frage: "Sind das Original-Frauen?"

Kulturalisierung. Eine andere Bekannte, welche die Belagerung Sarajevos miterleben musste, erinnerte sich, dass die "Internationalen" die kulturellen Codes - Trinksprüche, Flüche, Schlagertexte, Mimik und Gestik - sehr schnell beherrschten, "aber sonst überhaupt nichts kapiert" hätten. Einher mit der Entindividualisierung des Balkan-Apachen durch den Balkan-Idioten geht seine Kulturalisierung. Vom montenegrinischen Schäferlied bis zur erhabenen Eleganz der Belgraderin beim Window-Shopping ist alles Ausdruck von etwas, wonach sich die fragmentierten Winter- wie Sommerschlussverkaufs-Identitäten der Balkan-Idioten vampirisch sehnen, dem Imago einer kulturell überpinselten Wahrhaftigkeit.

Wieder-Verzauberung. Niemand weiß so recht, warum der Balkan magisch sein soll. Schuld daran ist wahrscheinlich die Ikone der Balkan-Idioten, ein Mann, der seinen bosnischen Namen Emir erst kürzlich in den serbischen Königsnamen Nemanja ändern ließ. Die jüngeren postjugoslawischen Filmemacher verachten Kusturica. Am liebsten würden sie die Kalaschnikow nehmen, von der er dauernd singen lässt, und damit jeden schwebenden Geist einer ertrunkenen Braut vom Himmel, jedes Huhn vom Zigeunerkopf knallen. Seine kitschigen Machwerke haben die kulturelle Wahrnehmung der Balkan-Idioten dermaßen formatiert, dass die Werke jüngerer, materialistischerer Künstler nur noch auf fliegende Bräute und lustige Hühner abgeklopft werden.

Die Piazzolla-CDs sind allesamt abgehört, so drängen die Arte-Gourmets zum Balkan, um sich dort die verschwitzte Halbweltversion ihrer "Wunderbaren Welt der Amélie" reinzuziehen. Menschen mit Schicksal scheinen hilfloser zu sein gegenüber dem Poesieschleim, mit denen die Balkan- und Ostidioten sie überschütten, um sich hernach am Wet-Look zu begeilen.

Die Poesie der Plattenbauten. Einst feierten viele Linke die Plattenbauten und Industriekomplexe des Ostens als Symbole einer neuen, besseren Gesellschaft. Ein eigenartiges Licht auf ihre Gesinnung wirft der Umstand, dass denselben Leuten nun der Verfall dieser Gebäude, zugleich Symbol des gesellschaftlichen Verfalls, noch besser zu gefallen scheint. Nachgeborene Balkan-Idioten zelebrieren eine rein symbolische, inhaltsleere Jugo-Nostalgija, die ihnen gar nicht zusteht, und ästhetisieren zugleich, ohne sich dieser himmelschreienden Schäbigkeit bewusst zu sein, die Schäbigkeit verfallener Sozialistenherrlichkeit.

Priština, so versicherten mir Menschen, die von dort vertrieben wurden, sei die hässlichste Stadt der Welt. Zwei lebenslustige Freundinnen, die diese mit ihrem Auto auf dem Weg zu mazedonischen Klöstern durchquerten, waren begeistert von so viel postsozialistischer Wirklichkeit und freuten sich schon auf ihren nächsten Urlaub - dort. Wenn das nicht zur guten alten Idee des Bevölkerungsaustauschs verleitet ...?

Gender revisited. Im imaginären Apachenland können die sonst sexuell korrekten Karlis und Sybilles der Verlockung erliegen, vorm Wechsel einmal noch richtig auf hombre und mujer, auf Dragutin und Dragana zu machen, obwohl diese in ihren Gesellschaften trotz ihrer für westliche Ohren markig klingenden Namen auch nur Karlis und Sybilles sind und obwohl der jugoslawische Teil des Apachenlandes einst einer der Vorposten des europäischen Feminismus war.

Anfangs waren sie schockiert, später neugierig und schließlich imitierten die Balkan-Idioten kathartisch die Apachenflüche von Schwanzrauchen und Mutterfotzen, die dort angeblich jede Omi beim Marktbesuch auf den Lippen führt. Sie übertrieben aber mit diesem neuen Mut zur Derbheit dermaßen, dass ihre indigenen Gastgeber peinlich dazu schwiegen, in der höflichen Annahme, ihre Gäste hätten diese Apachensitten sicher in schlechter Gesellschaft erlernt.
Eines der für Balkan-Idioten unverständlichsten Phänomene muss der Umstand sein, dass die Grenze zwischen Balkan-Idioten und Balkan-Apachen nicht zwischen West und Ost verläuft, sondern quer durchs Apachenland. Dass die Metropolen des Balkans voll mit Karlis und Sybilles sind, die noch weniger Nähe zu den Apachensitten verspüren als die Balkan-Idioten im Westen.
Kroatien bekam die Adriaküste und die Eintrittskarte für Europa, musste dafür seine Testosteronbestände aber an Serbien abtreten. Dagegen protestierten vor allem die somit kastrierten Intellektuellen. Die Fotos eines Imagekatalogs neuerer kroatischer Literatur zeigten viele dieser dichtenden Karlis in ihren Selbstinszenierungen als verwegen-vollbärtige Kornaten-Satyren und abgefuckte Grenzland-Hajducken.

Re- und Selbstziganisierung. Bürgerliche Jugo-Apachen in Wien sind peinlich darauf bedacht, von der österreichischen Wahrnehmung nicht mit den Gastarbeiter-Apachen verwechselt zu werden, sowie diese ihrerseits alles daran setzen, nicht mit der untersten Kaste, den Zigeuner-Apachen, in einen Hut geworfen zu werden. Seit die Balkan-Idioten aber aus heiterem Himmel begannen, die unteren zwei Kasten zu idealisieren, kamen vor allem die Intellektuellen der obersten Kaste in gehörigen Identitätsnotstand. Belgrader Bürgerssöhnchen, die vor zehn Jahren noch Punk und Free-Jazz frönten und über Folklore die Nase rümpften, nicht zuletzt weil da schon die Faschisten drauf saßen, begannen sich, um bei Sex und Anerkennung durch die Balkan-Idioten nicht leer auszugehen, heillos zu ethnisieren, zu "kusturicieren" - und nahmen sogar bei Nickelbrillen-Karlis Nachhilfe, wie man sich bei Zigeunermusik die Hände auf Glasscherben blutig schlägt.

Die Zigeuner aber sind das Herz des Balkanidiotentums, in der Ästhetisierung ihres Lebens erreicht es jenen Gipfel der Widerwärtigkeit, von dem aus ihr nur noch die Kinderpornografie die Hand reichen könnte. Wer sich als Linker dabei ertappt, schlammige Dorfstraßen und zerfurchte vierzigjährige Gesichter beschaulich zu finden, den kann nur noch Selbstekel retten. Zigeuner mit langweiligem Einfamilienhausidyll und schwedischer Lebensqualität kämen den Balkan-Idioten einem Lieferungsstopp ihres Authentizitätsnektars gleich.

Den Balkan-Idioten ist eben nicht zu helfen. Sie haben ihr Apachenreservat längst abgesteckt. Da gibt es kein Entkommen. Sie saugen Tränen aus den Augen der Kriegswitwen und tanzen mit den Mördern Kolo, finden Kolo genauso cool wie Apachen-Hip-Hop, Tito genauso cool wie den Heiligen Sava - denn die Intensität ist es, die den Apachen, jenen ideellen Anti-Schweizer, ausmacht. Ihr bleibt Apachen, ob ihr welche seid oder nicht! Nur die Zigeuner haben eine winzige Chance, dem Reservat zu entfliehen, wenn die Balkan-Idioten ihren Worten endlich Taten folgen ließen und ihre Wohnungen gegen deren Hütten tauschten. (Richard Schuberth, 13. Dezember 2010, daStandard.at)