Andrew Straw weiß, dass sich die evolutionären Wege von Mensch und Fliege vor hunderten Millionen Jahren getrennt haben. Und dennoch: Um zu verstehen, wie ein Säugetier funktioniert, müsse man erst begreifen, wie eine Fliege funktioniert.

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Robert Czepel sprach mit ihm über Taufliegen im virtuellen Raum und über Helikopter-Steuerungen.

STANDARD: Wie sieht eine Fliege die Welt?

Straw: Was die Optik betrifft, gibt es natürlich große Unterschiede im Vergleich zum Menschen. Fliegen haben Facettenaugen, die aus vielen Einzelaugen zusammengesetzt sind. Doch die Weiterverarbeitung des Netzhautbildes ist durchaus ähnlich wie bei uns. Ich möchte herausfinden, wie eine Taufliege die visuelle Information nutzt, um sich in der Welt zurechtzufinden. Das führt dann zu Fragen wie: Gibt es Regeln, mit denen man das Flugverhalten von Fliegen beschreiben kann? An welchen Dingen orientieren sich Fliegen?

STANDARD: Kann man ein Fliegenhirn überhaupt mit einem menschlichen Hirn vergleichen?

Straw: Nachdem sich die evolutionären Wege von Mensch und Fliege schon vor hunderten Millionen Jahren getrennt haben, sind deren Hirne natürlich ganz unterschiedlich aufgebaut. In molekularer Hinsicht gibt es allerdings sehr weitreichende Überschneidungen, etwa auf der Ebene der DNA, der Proteine und der biochemischen Reaktionspfade. Neuere Forschungen zeigen, dass auch die Gehirnentwicklung von Wirbeltieren und Wirbellosen nach ähnlichen Mustern abläuft. Offenbar sind hier molekulare Mechanismen am Werk, die im Lauf der Evolution beibehalten, "konserviert" wurden. Der Grund, warum wir Fliegen für unsere Forschungen verwenden, ist: Man kann mit ihnen sehr schnell sehr viele Versuche durchführen, sei es nun auf der molekularen oder auf der Verhaltensebene. Letztlich wollen wir wissen, wie ein Hirn mit ein paar hunderttausend Neuronen sinnvolles Verhalten generiert. Das ist das Erste, was wir herausfinden müssen: Denn wenn wir nicht verstehen, wie eine Fliege funktioniert – wie können wir dann jemals verstehen, wie ein Säugetier funktioniert?

STANDARD: Taufliegen gibt es nicht nur hier am Institut für Molekulare Pathologie, sie vermehren sich mitunter auch in ganz normalen Obstschalen. Warum ist es eigentlich so schwierig, diese Fliegen zu fangen?

Straw: Die neuronalen Schaltkreise für das Fluchtverhalten bestehen nur aus ein paar Nervenzellen. Und diese wurden eben darauf optimiert, schnell zu arbeiten – aus Überlebensgründen. Aus Sicht der Robotik sind das im Übrigen äußerst bemerkenswerte Leistungen. Ein Fliegenauge hat nur etwa 700 Pixel auf seiner Retina, dennoch kann sich die Fliege damit schnell und verlässlich orientieren, findet Nahrung, Fortpflanzungspartner und vieles mehr. Wie sie das tut, möchten wir herausfinden.

STANDARD: Sie haben ein automatisches Trackingsystem für das Flugverhalten entwickelt. Wie funktioniert das?

Straw: Es besteht aus bis zu elf Kameras, die alle Flugbewegungen einer Fliege in einer Box verfolgen. Diese Informationen schicken wir in einen Computer, der daraus ein dreidimensionales Bild errechnet. Wir haben mithilfe der Technologie von Computerspielen auch eine Art Holodeck für die Fliege konstruiert. Wir projizieren an die Innenwände der Box Bilder, die der Fliege dann vorgaukeln, sie befände sich in einem schwarz-weißen Zylinder. Obwohl die projizierten Wände des Zylinders nur virtuell sind, interpretiert sie die Fliege als reale Begrenzung. Auf diese Weise lernen wir, woran sich die Fliege eigentlich orientiert und auf welche Reize sie achtet.

STANDARD: Das heißt, Sie können die Fliege auch lenken? Wie mit einer Fernbedienung?

Straw: Ja, wir können sie lenken, aber ich würde nicht sagen, dass es wie eine Fernbedienung funktioniert. Die Fliege tut immer noch, was sie will. Wir greifen lediglich indirekt – über Rückkoppelungsschleifen – in ihr Verhalten ein. Ein Vorteil dieses Systems ist, dass man viele Versuche mit ein und derselben Fliege durchführen und in kurzer Zeit enorm viele Daten sammeln kann. Mithilfe der Fliegenbibliothek hier im Haus möchten wir auch herausfinden, welche Neuronen für das Flugverhalten verantwortlich sind.

STANDARD: An Ihrer früheren Arbeitsstätte, dem California Institute of Technology, haben Sie auch ein Steuerungssystem für Helikopter entwickelt.

Straw: Ja, aber nicht alleine. Ich war nur einer der Teilnehmer eines entsprechenden Projekts. Für mich war der Designaspekt des Steuerungssystems das Interessante: Bei konventionellen Ansätzen stellt man zunächst die Sensoren, den Controller, den Motor und alle anderen Bauteile her und setzt sie dann zusammen. Die Fliege macht es anders. Ihr Design wurde durch die Evolution gestaltet, die Bauteile sind nicht getrennt und arbeiten noch dazu viel robuster als künstliche Systeme. Von Fliegen kann die Technik noch viel lernen.

STANDARD: Drosophila ist vermutlich das am besten untersuchte Tier, das es gibt. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Unbekannten in der Biologie der Fliege?

Straw: Ich würde fragen: Besitzen die Fliegen ein Modell dieser Welt? Oder konkreter gefragt: Können sie sich etwa an einzelne Objekte erinnern, sobald diese nicht mehr in ihrem Blickfeld sind?

STANDARD: Was glauben Sie, wie die Antwort lautet?

Straw: Es gibt zumindest Hinweise, dass sie dazu imstande sind. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.12.2010)