Herr Walter ist ein besonders eifriger Protestierer: "Ich habe heute Urlaub, aber zum Streiken komme ich natürlich." Vor dem Siemens-Gebäude an der Erdberger Lände steht Herr Walter um neun Uhr mit Tausenden Kollegen im Hof. Beklatscht die Rede des Betriebsrats ("man kann nicht gegen die Menschen regieren"), erregt sich über die Pensionsreform ("ich bin drei Jahre vor der Pension, und jetzt nehmen sie mir so viel weg") - und freut sich über den Streik: "Wir müssen uns wehren." Was er sonst zu sagen hätte, geht im fröhlichen Trillerpfeifenkonzert unter.

Beamte protestieren ruhiger

Beamte protestieren ruhiger, wie Mitarbeiter der Finanzverwaltung und des Gesundheitsministeriums zeigen. A-4-Zettel statt Transparenten, gepfiffen wird nicht. Man steht einfach herum und plaudert. Im Foyer des Amtshauses in der Wiener Radetzkystraße treffen sich nur 250 Beamte. "Wir haben viele Pendler", wird entschuldigt. Einer soll auf jeden Fall kommen: Fritz Neugebauer, Chef der Beamtengewerkschaft. "Ich bin neugierig, was der sagt", erwartet ihn eine Mitarbeiterin des Gebührenamtes. In ein paar Jahren wollte sie in Pension gehen, "natürlich bin ich besorgt". Dass der Streik sinnvoll ist, steht außer Streit. Das "So a Husch- Pfusch-Reform hätt's früher ned geben" eines Kollegen auch. Zum Plaudern ist Zeit. Neugebauer steckt im Stau.

"Beim Gehen ist Wien ganz anders"

Den zum Beispiel die Siemensarbeiter produzieren. Karl an Georg: "Und das ist das Hundertwasserhaus." - Georg an Karl: "Du bist ein super Fremdenführer. Beim Gehen ist Wien ganz anders." Wann sonst außer bei der Demo von Siemens in die Innenstadt hat man schon Gelegenheit zum Sightseeing? Gemütlich zieht sich der Streikzug 40 Minuten am Donaukanal entlang. Die Stimmung ist so freundlich wie der Sonnenschein - der Streik, das ungewohnte Ereignis, wird von vielen begrüßt wie ein kleines Abenteuer: Vorbeifahrende Radler klingeln mit den Pfeifen mit, Passanten fotografieren, Anwohner winken aus Fenstern, Verkäufer bieten Streikwasser an.

Stärkung

Stärkung gibt es auch für frühe Streiker - Würstel und Kaffee für Straßenbahner und Busfahrer. Dort beginnt um halb sechs Uhr auch der Streiktag von ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch mit Wettern: "Das ist keine Pensionssicherung, das ist Pensionsraub." Ein Satz, den er oft wiederholt: Eine halbe Stunde später vor 400 Postlern am Südbahnhof, um halb acht vor 2000 Mitarbeitern der Gebietskrankenkasse am Wienerberg.

Brummeln bei Beamten

Dorthin ist auch rote Prominenz gepilgert: SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer und Wiens Bürgermeister Michael Häupl. Sie hören auch Sorgen abseits der Pensionsreform, etwa vom Grundig-Betriebsrat: "Seit zweieinhalb Monaten bekommen wir kein Gehalt mehr."

Verspätung

Mit Verspätung trifft Fritz Neugebauer im Ministerium in der Radetzkystraße ein. Er enttäuscht nach Anfangsschwierigkeiten seine Zuhörer nicht: "Ich werde einer solche Vorlage meine Zustimmung im Nationalrat nicht geben." Und sichert sich so endlich Applaus. Daher wird weiter gegen die eigene Partei, die ÖVP, gebrummelt: Weil sie die Pensionsreform ohne Sozialpartner gemacht habe und weil das Tempo der Reform durch nichts zu rechtfertigen sei, außer es gehe "nur um kurzfristige Budgetkosmetik".

"Neugebauers Rede hat mir sehr gut gefallen", lobt ein Mitarbeiter der Rechtsmittelbehörde. Der Streik sei "absolut gerechtfertigt" und gehöre ausgeweitet, "wenn die Regierung nicht einlenkt". Weitere Aktionen sind schon geplant. Freitagvormittag werden in der Finanzverwaltung von 9 bis 11 Uhr keine Telefonate angenommen. Auch eine Form des Protests.

Im weißen Kittel

Frau Maria protestiert in ihrem weißen Kittel, schließlich muss sie nachher wieder bei Henkel Waschmittel abfüllen. Wie seit 35 Jahren. Nein, sie hat noch nie gestreikt, erzählt die gedrungene und resolute Frau: "Es ist traurig, dass es so weit gekommen ist. Aber wir müssen uns wehren - von der Pension, die die Regierung mir geben will, kann ich nicht leben. Ich habe keinen reichen Mann." Genauer gesagt gar keinen. Aber darum geht es heute nicht.

Es geht um die "Grauslichkeiten der Regierung": Nach Neugebauer listet Klaus Platzer, Finanzchef der Beamtengewerkschaft, auf, "wer wie viel verliert": "Ein Bankangestellter, 29 Jahre: minus 33 Prozent. Versicherungskaufmann, 56,5 Jahre: minus 21 Prozent" usw. Beamte sind genau: Der Protest ist nach ^exakt einer Stunde aus.

Vor dem Ministerium demonstrieren andere. Transparente schwenken und "buh" schreien - schaut so ein Streik aus? "Es ist ja kein Streik in dem Sinn", findet Herr Peter und wirft sein Sakko über die Schulter. Denn seine Firma Siemens sei ja nicht geschlossen: "Die, die wollten, durften mitdemonstrieren. Aber manche sind arbeiten gegangen."

Der Siemens-Betriebsrat gehört nicht dazu. "Wir haben kein Geld für Pensionen, wir haben kein Geld für Gesundheit - aber für die Kampfflieger, da haben wir die Marie", donnert er seine Wut von der Bühne. Die Antwort ist nicht weniger laut: tosender Applaus, schrille Pfiffe, Tröten - von den vielen Siemens- und Henkel-Mitarbeitern, die bis zum Wirtschaftsministerium marschiert sind.

Bravo vom Balkon

GPA-Chef Hans Sallmutter, erdig-solidarisch in Jeans und kurzärmeligem Hemd wie die meisten Protestierer, freut sich zuerst über die Masse: "Mit 5200 Leuten vor dem Ministerium habe ich nicht gerechnet." Wütet gegen die Pensionsreform: "Um durchschnittlich 38 Prozent weniger Pension, das führt schnurstracks in die Altersarmut." Und schreit mit immer kratzigerer Stimme: "Wir brauchen eine Regierung nicht, die das zerstören will, was wir 50 Jahre lang aufgebaut haben."

Dass die Streiker das bejubeln, verwundert nicht. Überraschender ist schon andere Zustimmung: Beamte und Mitarbeiter des Wirtschaftsministeriums kommen auf die Balkone und an die Fenster - und applaudieren.

Dieser Streiktag kann erst ein Anfang gewesen sein - wie die Ordner vor dem Wirtschaftsministerium andeuten: "Liebe Kollegen, eine Durchsage an alle Transparentträger. Die Transparente bitte bei der Bühne abgeben - sie werden später noch gebraucht." (Eva Linsinger, Peter Mayr/DER STANDARD, Printausgabe, 7.6.2003)