Die nächsten Zapf-Stationen des "Aufdeckerschwarms" sind vorhersehbar: Konzernzentralen, Verwaltungen, bis hin zum unzufriedenen "Geheimnisträger" von nebenan ...

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Der Mann erfüllt augenscheinlich alle Kriterien des klassischen Heldentums: Er wird von den Autoritäten verfolgt, er steht auf der Seite des Volkes und er nimmt den Privilegierten, um es den Massen zu geben - zwar nicht Gold und Juwelen, doch etwas, dass mitunter noch wertvoller sein kann: Wissen und Geheimnisse. Julian Assange ist der Robin Hood unserer Tage.

Das Informationszeitalter hat schon einige solcher Helden gefeiert. Einen gewissen Bill Gates beispielsweise, der den Konzernen das Monopol auf die Computertechnologie entriss, um dann selbst zum allmächtigen Monopolisten zu werden. Da waren Sergey Brin und Larry Page, die Erfinder und Gründer von Google, die dem Volk die Tore zum Internet erst tatsächlich öffneten. Freilich ohne dabei zu erwähnen, dass sie sich im Gegenzug auch offene Tore und Gucklöcher aller Art in die Privatsphären aller, die das Netz nutzen, erwarten. Und schließlich Mark "Facebook" Zuckerberg, der eine halbe Milliarde Menschen zu Freunden machte und vor dem sich nun irgendwie alle fürchten, weil noch nicht ganz klar ist, was er an Freundschaftsdiensten einfordern wird.

Kurz: Viele der anfangs bejubelten Helden des vernetzten Globus sind zu einer Art Antichrist mutiert. Mittlerweile sind es überwiegend Wettbewerbshüter und Konsumentenschützer, die versuchen, Googles einstige Firmenphilosophie "don't do evil" noch halbwegs im Sinne der Verbraucher durchzusetzen.

Schwarmintelligenz

Als eine der Stärken des Internets und der darin vernetzten Menschen wird oft die Schwarmintelligenz zitiert: schnelle Reaktion auf plötzliche Ereignisse, kollektive Problemlösungen. Aber weder schickt ein Heringsschwarm einen Spähtrupp voraus, um die sicherste Route durch den Ozean zu erkunden, noch hält ein Schwarm Gänse Meetings ab, um den Flugplan des Tages zu erörtern. Vorausschau ist also des Schwarmes Sache nicht. Was sich hinter der nächsten Biegung befindet, weiß er genau dann, wenn er dort ist - und das kann oft zu spät sein.

Versuchen wir also, diese Schwäche des Schwarmes ein wenig auszugleichen und schicken wir einen Hering als Späher voraus, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie es mit Wikileaks weitergeht.

Was mit größter Wahrscheinlichkeit nicht geschehen wird, ist, dass Wikileaks den Betrieb aus Erfolgsgründen einstellt. Die Meldung "Mission accomplished - alle Machenschaften erfolgreich aufgedeckt" wird kaum jemals auf der Startseite des Webportals zu lesen sein. Denn wie alle Internetunternehmungen, die dauerhaft existieren wollen, braucht es Wachstum, Nachschub. Irgendwann aber werden die "low hanging fruits" , die leicht zu bekommenden Sensationen ausgehen. Die Zeit, in der sich zwanzigjährige Kadetten vertrauliche Informationen auf DVD brennen und sie als Lady-Gaga-Videos tarnen können, wird rasch vorbei sein und auch die großen Knüller, die an der Oberfläche schwimmen, bald abgefischt sein. Was wird dann geschehen? Assange und sein Spionagebaby brauchen Futter, um zu wachsen.

Gigantisches Reservoire

Wahrscheinlich werden zwei Dinge eintreten: Zum einen wird es in die Tiefe gehen. Das bedeutet, die Informanten müssen mehr Risiko eingehen. Mit Copy-Paste wird es nicht mehr getan sein. Es wird sich eine kleine aber engagierte Liga von Amateur-James-Bonds etablieren, die in Werke eindringen, Serverparks hacken, Sicherheitsfirmen infiltrieren. Und damit immer häufiger Gefahr laufen, von einer zunehmend alarmierteren und nervöser werdenden Abschottungsriege auf frischer Tat ertappt zu werden. Wann wird es das erste Opfer unter den Wiki-Agenten geben? Niedergestreckt auf der Flucht aus einem geheimen Militärgelände?

Zugleich wird es in die Breite gehen. Die Unternehmen und Firmen, die gerade alles versuchen, um Wikileaks lahmzulegen, brauchen dazu keinen Befehl aus Washington. Diese Konzerne wissen, dass sie als nächstes dran sind. Wenn sich Regierungen, Behörden und Militär erst einmal auf die neue Bedrohung eingestellt und sich weitgehend abgeschottet haben, wird der Aufdeckungsschwarm weiterziehen. Zunächst auf die Big Player, die Blue Chips. Google, Amazon, Microsoft, BP (!), Daimler, VW, Kraft-Food, Deutsche Bank, Siemens, Telekom, Lufthansa ... Kein Zweifel, dass dort viel zu holen sein wird, an Skandalen, unbotmäßigen Protokollen über geheime Sitzungen von Aufsichtsräten usw.

Gleichzeitig bieten diese Unternehmen ein gigantisches Reservoir neuer Rekruten. 240.000 Siemensangesellte, 120.000 Lufthansabedienstete, zigtausende Google-Administratoren - Millionen von potenziellen Geheimnisträgern, tausende von möglichen kleinen "Lecks" , die darauf warten, angezapft zu werden.

Anti-Facebook

Und sie werden sprudeln. Unzufriedene gibt es überall, der Frustpegel ist hoch und die vermeintliche Anonymität verheißungsvoll. Bald schon werden die großen Firmen reagieren. Die Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz werden erhöht, entsprechende Soft- und Hardware-Lieferanten werden gute Umsätze machen. Aber der Schwarm wird nicht zu stoppen sein. Er wird weiterziehen. Zu den kleineren Unternehmen, von Staatsregierungen zu Landesverwaltungen zu den Gemeinden.

Und so wird Wikileaks irgendwann vor unserer eigenen Tür stehen. Vielleicht in Person des pensionierten Gymnasiallehrers gegenüber, der immer so neugierig in den Garten schaut. Macht er nicht sogar Notizen? Oder der Babysitter? Studiert die junge Babsi nicht irgendwas mit Informatik? Die kann sich doch bestimmt leicht in unseren Laptop einloggen. Vielleicht hat sie schon Web-Cams im Esszimmer versteckt?

Bald schon werden Arbeitgeber nicht mehr googeln, sondern bei Wikileaks nachsehen, ob es nicht eine Akte über den Jobbewerber gibt. Aktionäre werden ebenfalls zuerst dort anfragen, bevor sie einen neuen Vorstand benennen. Und an der Wallstreet werden anstatt der Nachrichten von Bloomberg die neuesten Meldungen von Assanges Plattform die Ausschläge an den Kurstafeln bestimmen. Wikileaks wird das Anti-Google, das Anti-Facebook. Nicht Freunde werden dort vernetzt sein, sondern Feinde.

Totalitäre Tendenz

Wikileaks bedient eine wenig edle, aber motivationsstarke Seite der Menschen: das Denunziantentum. Diktaturen gründeten und gründen darauf ihre Macht, mit Wikileaks hat es sich nun verselbstständigt. Außerhalb jeder Legislatur, ohne juristischen Sachverstand oder Ethos, fern jeder parlamentarischen oder demokratischen Kontrolle entsteht ein neuartiger Überwachungsapparat, wie man ihn noch nicht kannte. Und während die Menschen in der realen Welt üblicherweise vor allem Neuen und Unbekannten große Scheu zeigen, scheint es eine Eigenschaft des Webs zu sein, dass Neuheiten dort eine besondere Anziehungskraft entwickeln. Vielleicht, weil alles nur virtuell und vermeintlich ungefährlich erscheint.

Google gibt den totalen Überblick, Wikipedia das totale Wissen, Amazon bietet den totalen Einkauf und Facebook die totale Freundschaft. Bringt Wikileaks die totale Aufdeckung? - Hoffen wir nicht! Hoffen wir, dass der Schwarm diesmal vorüberzieht. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.12.2010)