Über die plötzliche Lust der Österreicher an der "gehässigen Konfrontation": Anmerkungen zum Streik gegen die Pensionsreform aus helvetischer Perspektive.


Natürlich konnte auch der Schweiz das Thema Pensionsreform nicht erspart bleiben. Just an dem Tag, als im Nachbarland Österreich mit kämpferischen Tönen der "Aktionstag" der Gewerkschaften gegen das Reformpaket der Regierung Schüssel abgehalten wurde, tagte in Bern der Nationalrat zum Thema Revision der AHV (Alters- und Hinterbliebenen- Versicherung) und BVG (Gesetz über die Berufliche Vorsorge). Während in Österreich eine historisch zu nennende Konfrontation ihrem Höhepunkt zustrebte, ging es in Bern in den Worten der NZZ-Bundeshaus-Berichterstattung darum, "eine Annäherung auszuloten".

In dieser Formulierung schwingt bereits die unterschiedliche Annäherung an das Problem dies- und jenseits des Rheintals mit: Während in Österreich gegen die Regierung mobilgemacht wird und diese naheliegenderweise gelobt, dem "Druck der Straße" nicht zu weichen (dies aber in dem "abgefederten" Entwurf Schüssels dennoch getan hat), während sich hier also zwei Fronten in zunehmend feindseliger Haltung gegenüberstehen, wird offenbar in der Schweiz versucht, den Konflikt möglichst einvernehmlich und in eher sachlichem Ton auszutragen. Schlüsselworte dabei sind Vernehmlassung - die Befragung aller von einer Sachfrage betroffenen Kräfte -, Kompromissfindung und, vor allem, Referendumsdemokratie.

Die Macht ...

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund, als Dachverband zwar dem ÖGB vergleichbar, sieht sich aber weder als "Kampforganisation" noch als Partner einer "Quasi- Nebenregierung". Seine Stärke liegt in seiner Referendumsmacht. Dank dieser vermochte der schweizerische Gewerkschafts-Dachverband schon einige sozialpolitische Reformen mit einer Referendumsabstimmung an der Urne durchzusetzen.

Streiks werden in der Schweiz womöglich noch weniger leichtfertig durchgeführt als im Nachbarland Österreich. In den Gesamtarbeitsverträgen der einzelnen Branchen ist in der Regel die so genannte "Friedenspflicht" verankert, die innerhalb der jeweiligen Branche eine Lösung von Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Konflikten auf dem Verhandlungsweg vorschreibt. Damit ist in der Schweiz in den wichtigsten Branchen die Präferenz für die Suche nach einer einvernehmlichen Lösung klar gegeben.

Für den Beobachter aus dem Nachbarland liegt Polarisierung in der Luft, ja ein Hauch von Bürgerkriegsstimmung - natürlich wienerisch versüßt durch aromatischen Blütenduft, eine Quasi-Ferienstimmung mit prächtigem Frühlingswetter, gut frequentierten Schanigärten, Scharen von Radfahrern und Skatern auf der Ringstraße: Trotz allem überwiegt doch noch die Spaß- und Wohlstandsgesellschaft und die vom Bürgermeister vorsorglich beschworene Verelendung zeichnet sich am gesellschaftlichen Horizont für diesen Beobachter jedenfalls noch nicht erkennbar ab. Und dennoch: Rot gegen Schwarz, Arbeiter und Angestellte gegen die Regierung. Die ja auch hierzulande von vielen skeptisch aufgenommene Neuauflage der schwarz-blauen Koalition hat den schwelenden Konflikt nicht beendet, sondern im Gegenteil am Schmoren gehalten und die allgemeine Polarisierung, wie sich jetzt zeigt, kein bisschen gemildert.

Es ist zwar durchaus nachvollziehbar, dass Schüssel, der ja im Wahlergebnis vom November mit einem starken Rückhalt ausgestattet wurde, die dringliche Aufgabe der Pensionsreform zügig und mit Entschlossenheit an die Hand nehmen wollte. Die Gefahr von Verschleppung und Verwässerung wäre sicherlich beträchtlich gewesen, hätte er sich auf ein langwieriges Tauziehen mit allzu vielen Kontrahenten eingelassen. Aber Schüssels entschlossenes Durchgreifen in dieser heiklen - und für viele Arbeitnehmer schmerzhaften - Angelegenheit führte zu einer Situation, die in der Schweiz undenkbar wäre: Es entstand der Eindruck, dass die Regierung der Bevölkerung eine Regelung aufzuzwingen versucht, ohne wirklich einen tragfähigen Konsens zu suchen.

Schüssel stützt sich auf das deutliche Mandat aus dem Urnengang im November 2002, um ohne Verzug eine unpopuläre Maßnahme durchzusetzen - und hat so offenbar an Sympathien selbst bei manchen eingebüßt, die ihm und seiner Partei damals das Vertrauen ausgesprochen hatten. Abgesehen von der Sachfrage ist dies wohl auch eine Stilfrage.

In der repräsentativen Demokratie leiht der Wähler dem Politiker sein Vertrauen. Dies ist bekanntlich nicht ein bedingungsloser Machttransfer, sondern eine bedingte Leihgabe. Der Bürger mag schon vor Ablauf der Legislaturperiode zum Schluss kommen, dass der beliehene Politiker dieses Vertrauen nicht in seinem Sinne zur Wirkung gebracht hat. Er kann murren und raunzen, demonstrieren und sogar streiken, sonst aber wenig gegen diesen Zustand unternehmen.

... des Volksentscheids

In der Schweiz mit ihrem System der direkten Demokratie behält der Stimmbürger mit dem fakultativen Referendum im Prinzip in allen Sachfragen das letzte Wort - sofern sich jeweils eine Partei oder Organisation findet, die das Referendum gegen ein Gesetz ergreift. Hat der Bürger in der Abstimmung seine Präferenz geäußert, so mag er wohl über das Resultat immer noch murren - doch keiner kann ernsthaft behaupten, dass es ihm von einer Regierung aufoktroyiert wurde. Wohl oder übel identifiziert er sich mit dem Volksentscheid, selbst wenn er nicht in seinem Sinne ausgefallen ist.

Eine gehässige Konfrontation zwischen Bevölkerung bzw. Gewerkschaften und der Regierung, wie man sie in diesen Tagen in Österreich erlebt, ist dank der Referendumsdemokratie in der Schweiz kaum vorstellbar. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.5.2003)