"Ich habe die Freiheit, auf jeden einzelnen Patienten individuell einzugehen. Unterm Strich ist es ein sehr kreativer Beruf." Christian Andergassen, Wien.

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Der Wiener Ergotherapeut Christian Andergassen ist seit fünf Jahren selbstständig. Im Gegensatz zum Angestellten-dasein, erzählte er Wojciech Czaja, hat er heute mehr berufliche Freiheiten denn je.

"Seit fünf Jahren bin ich nun als selbstständiger Ergotherapeut tätig, bin zu diesem Job aber auf Umwegen gekommen. Nach der Schule habe ich Architektur und Kunstgeschichte studiert. Aber ich war nicht oft auf der Uni, mir war das alles zu theoretisch, das war einfach nicht meins. Erst während des Zivildienstes in Innsbruck habe ich gemerkt, wie leicht mir die Arbeit mit Menschen von der Hand geht. Ich habe in einem Krankenhaus gearbeitet und war dort 'Mädchen für alles'.

Nach dem Zivildienst war für mich klar, dass ich in diesem Bereich weiter arbeiten will. Ich habe mich auf der Akademie für Ergotherapie am Ausbildungszentrum West für Gesundheitsberufe in Innsbruck beworben und wurde auch aufgenommen. Die Ausbildung hat drei Jahre gedauert. Es war eine spannende Zeit.

Nach meiner Ausbildung habe ich erst einmal am neurologischen Krankenhaus der Stadt Wien am Rosenhügel gearbeitet, danach auf der Neurologie am AKH. Ich kenne den Job des Ergotherapeuten also sowohl aus dem Angestelltenverhältnis als auch aus der Selbstständigkeit. Kein Vergleich!

Was ich aus meiner Zeit als Angestellter sagen kann: Ich habe mich wie ein kleines Rad in einem großen, unpersönlichen System gefühlt. Ich war nur ein ausführendes Organ. Alle Entscheidungen wurden von oben getroffen, teilweise habe ich Dienstanweisungen mittragen müssen, die von meiner persönlichen Meinung abgewichen sind. Mir wurde vorgeschrieben, wie ich mit bestimmten Patienten zu arbeiten hatte – sogar in Situationen, in denen ich den Eindruck hatte, dass eine andere Therapie für einen bestimmten Patienten besser geeignet wäre.

Nicht über die Runden gekommen

Nicht zuletzt war die finanzielle Situation nicht zufriedenstellend. Mein Gehalt im Krankenhaus und die Welt da draußen – das hat einfach nicht zusammengepasst. Ich bin kaum über die Runden gekommen. Letztendlich war das der Grund, zu gehen und mich selbstständig zu machen.

Ich genieße den Job heute sehr. Ich arbeite gemeinsam mit meinen Patienten und deren Familien an ganz spezifischen, zielorientierten Projekten. Ich habe die Freiheit, auf jeden einzelnen individuell einzugehen und mir zu überlegen, welcher Behandlungsansatz jeweils effektiv und passend ist. Unterm Strich ist es ein sehr kreativer Beruf. Das hatte ich im Krankenhaus früher vermisst.

Ich habe mich auf den Bereich der Neurorehabilitation spezialisiert: Die meisten meiner Patienten haben einen Schlaganfall oder ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten oder liegen im Wachkoma. Die Medizin ist heute auf einem hohen Standard. Teilweise überleben Menschen, die vor ein paar Jahren höchstwahrscheinlich noch verstorben wären. In manchen Fällen ist die Situation ziemlich drastisch. Mein Glück ist: Ich kann zwischen Nähe und Distanz gut variieren.

Je nach körperlichem und psychologischem Zustand und je nach Mobilität kommen die Patienten entweder zu mir in die Praxis, oder ich fahre zu ihnen in die Wohnung. Meine Praxis ist gleich an meine Wohnung gekoppelt. Ich wohne im Erdgeschoß eines Hinterhofhauses im 15. Bezirk in Wien. Ich habe einen kleinen Vorgarten, und der Zugang ist behindertengerecht. Es gibt einen gemeinsamen Vorraum, danach geht's rechts in die Praxis und links in die Wohnung – ganz so wie bei einem Landarzt. Mir gefällt das Konzept.

Zeit nehmen können

Finanziell geht es mir heute eindeutig besser als noch vor einigen Jahren. Ich komme mit meinem Geld gut aus. Doch am meisten gefällt mir, dass meine Arbeit vielschichtiger und facettenreicher geworden ist – und ich mir für meine Patienten und deren Angehörige wirklich Zeit nehmen kann.

Ich glaube, die Selbstständigkeit meint es gut mit mir. Ich komme leicht zu Patienten, und die Patienten finden leicht zu mir. Ich kann mich also voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren. Einzige Schattenseite: Ich habe oft das Gefühl, dass ich nur noch am Arbeiten bin. Aber das ist wohl Selbstständigenschicksal." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.1.2011)