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Wetter wechselhaft: Sein Buch "Deutschland schafft sich ab" brachte Thilo Sarrazin einen Hagel an Kritik, aber einen noch stärkeren Geldregen ein.

Foto: Reuters/Alex Domanski

Berlin - In allen deutschen Jahresrankings stand er in der Rubrik "Aufreger des Jahres" zumindest im Spitzenfeld, wenn nicht ohnehin an erster Stelle: Der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin sorgte mit seinen Thesen über die angebliche Integrationsunwilligkeit muslimischer Zuwanderer für enormen Widerhall - und machte so ganz nebenbei seinen millionenfach verkauften Bestseller "Deutschland schafft sich ab" zur Nummer 1 in den Sachbuchcharts.

Zeit, das Ganze nüchterner zu betrachten: Das an der Humboldt-Universität zu Berlin am Institut für Sozialwissenschaften angesiedelte Forschungsprojekt "Hybride Europäisch-Muslimische Identitätsmodelle" (HEyMAT) hat ein Dossier veröffentlicht, das sich mit dem Thema beschäftigt. Unter dem Titel "Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand" werden zentrale Aussagen Thilo Sarrazins zu Muslimen in Deutschland auf der Basis von empirischem Datenmaterial und wissenschaftlichen Studien kritisch überprüft. Insbesondere das 7. Kapitel in "Deutschland schafft sich ab", "Zuwanderung und Integration", wird aufgearbeitet. Einzelne Textpassagen und Zitate aus anderen Kapiteln seines Buches sowie explizite Aussagen zu "Muslimen" in Interviews fanden hierbei ebenfalls Berücksichtigung.

In der nun vorliegenden, knapp 70 Seiten umfassenden Veröffentlichung wurden sowohl die Daten des Mikrozensus 2008 und 2009 im Hinblick auf die Thesen Thilo Sarrazins untersucht als auch 20 repräsentative Studien von verschiedenen deutschen Forschungseinrichtungen berücksichtigt und analysiert. Dabei erfolgte die Interpretation des Datenmaterials überwiegend in enger Absprache mit den Autoren der jeweiligen Studien.

Diskrepanzen

Im Vergleich zeigte sich, dass Sarrazins Thesen über "die Muslime" - wahlweise auch über "die Türken und Araber" - den Ergebnissen der verwendeten Studien teilweise diametral entgegen standen. Beispielsweise sei es empirisch nachweisbar, dass bei sämtlichen Zuwanderungsgruppen mit muslimischem Hintergrund die Angehörigen der zweiten Generation deutlich häufiger als ihre Elterngeneration das deutsche Schulsystem mit einem Schulabschluss verlassen - in klarem Gegensatz zur These Sarrazins, dass es auch über die Generationenfolge hinweg keine positive Entwicklung gäbe. Beispielhaft auch die Diskrepanz beim Dauer-Reizthema Kopftuch: Entgegen der geäußerten Annahmen von Thilo Sarrazin, dass immer öfter zum Kopftuch gegriffen werde, nehme die Häufigkeit des Kopftuchtragens in der zweiten Generation signifikant ab. 70 Prozent der Frauen mit muslimischem Migrationshintergrund tragen laut den verwendeten Statistiken kein Kopftuch.

In ihrer Veröffentlichung weisen die Autoren darauf hin, dass es sich nicht um eine Beschönigung von bestehenden Problemen der Integration handle, sondern die konstatierte positive Entwicklung der Integrationsdynamik stärker in den öffentlichen Diskurs Eingang finden müsse. Es solle vermieden werden, Erfolge bewusst zu marginaliseren, um die langjährige Arbeit in der Politik, der Wissenschaft und im sozialen Bereich nicht zu gefährden.

Die Verföffentlichung "Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand" (Hg. Naika Foroutan, Korinna Schäfer, Coskun Canan, Benjamin Schwarze, unter Mitarbeit von Damian Ghamlouche, Monika Roth und Sina Arnold) kann über die Homepage www.heymat.hu-berlin.de kostenlos als pdf-File abgerufen werden. (red)