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Karunakara: Zu viel "Koordination", zu wenig Effizienz.

Foto: APA/ROBERT JAEGER

Haiti ist eigentlich eine unübliche Kulisse für die jüngsten Verfehlungen des humanitären Hilfssystems: Das Land ist klein und gut zugänglich - und seit dem Erdbeben im Januar findet dort einer der größten und am besten finanzierten internationalen Hilfseinsätze weltweit statt. Geschätzte 12.000 Nichtregierungsorganisationen sind vor Ort. Warum aber mussten mindestens 2000 Menschen an Cholera sterben - an einer Krankheit, die leicht zu verhindern und zu behandeln ist?

Ende November kam ich in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince an und fand meine Kollegen von Ärzte ohne Grenzen mit kaum zu bewältigender Arbeit vor: Sie hatten bereits mehr als 30.000 Cholera-Patienten behandelt. Wir und eine Gruppe kubanischer Ärzte taten unser Bestes, um täglich hunderte Patienten zu behandeln, aber nur wenige andere Organisationen taten Grundlegendes zur Kontrolle der Cholera, wie das Chlorieren von Wasser oder Abfallmanagement.

Noch immer Orte ohne Abfallbeseitigungsystem

Zehn Tage nachdem der Ausbruch Port-au-Prince erreicht hatte, mussten unsere Teams feststellen, dass die Einwohner des Slums Cité Soleil noch immer keinen Zugang zu chloriertem Trinkwasser hatten, obwohl Hilfsorganisationen im UN-Cluster für Wasser und Sanitär extra Gelder angenommen hatten, um genau diesen Zugang sicherzustellen. So begannen wir selbst, Wasser zu chlorieren. Noch heute gibt es nur an einem Ort der 3,5 Millionen-Stadt ein funktionierendes Abfallbeseitigungssystem. Mittlerweile hat sich die Epidemie im ganzen Land ausgebreitet. Mehr als 100.000 Menschen sind erkrankt, mindestens 2000 ums Leben gekommen.

Angesichts dieses grausamen Ausbruchs wurden Untersuchungen über dessen Ursachen durchgeführt - aber nicht veröffentlicht, obwohl diese Informationen elementar für das Verstehen des Ausbreitungsverlaufs sind. Theorien über die Ursprünge der Cholera reichen von der Kontaminierung des Flusses Artibonite durch UN-Friedenstruppen über Klimaveränderungen bis hin zu Vodoo-Zauber. Fehlende Transparenz, Angst und Argwohn haben Gewalt provoziert. Die Angst der Bevölkerung wird durch die Katastrophen-Prognose der pan-amerikanischen Gesundheitsorganisation (Paho), einer Schwesterorganisation der Weltgesundheitsorganisation, noch verstärkt.

Verlassene Kliniken im Umland

Zu keinem Zeitpunkt hat das Paho-Modell zum effektiven Einsatz von Hilfe geführt. Im Gegenteil: Ein großer Teil der Hilfe konzentriert sich auf Port-au-Prince, während unerfahrene Gesundheitsarbeiter in ländlichen Gebieten, in denen die Cholera grassiert, kaum Unterstützung erhielten. Teams von Ärzte ohne Grenzen entdeckten Gesundheitszentren, in denen lebensrettende orale Rehydrierungsflüssigkeiten ausgingen und Kliniken, die einfach verlassen wurden.

Obwohl vielen NGOs noch immer ausreichend Gelder aus der Erdbebenzeit zur Verfügung stehen, rufen sie vor diesem Hintergrund zu neuen Spenden auf. Das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) betont wiederholt, dass ihr Aufruf nach 174 Millionen US-Dollar, mit denen in erster Linie private Organisationen begünstigt werden sollen, eine zu geringe Unterstützung findet.

Trotz der Tatsache, dass Haiti unter den UN-Spendenaufrufen des Jahres 2010 an erster Stelle steht. Dass nahezu eine Million Haitianer in dieser ausgewachsenen medizinischen Katastrophe obdachlos sind und bleiben, lässt Argumente, dass existierende Gelder in längerfristigen Programmen gebunden sind, unglaubwürdig klingen.

Schlechtes Licht auf internationale Hilfe

Die unzureichende Reaktion auf die Cholera in Haiti - unmittelbar nach den nur schleppenden und hoch politisierten Fluthilfemaßnahmen für Pakistan - wirft ein schlechtes Licht auf das internationale Hilfssystem, dessen Architektur in den vergangenen 15 Jahren gründlich weiterentwickelt wurde.

Im den 90er-Jahren entwickelten die Vereinten Nationen einen bedeutenden institutionellen Apparat, um humanitäre Hilfe leisten zu können und gründeten 1992 das UN-Büro für Humanitäre Angelegenheiten - später OCHA. Damit kreierten sie die Illusion eines zentralisierten und effizienten Hilfssystems. Im Jahr 2005, nach dem Tsunami in Asien, wurde das System mit der Schaffung eines kurzfristigen Notfallfinanzierungsmechanismus (Cerf) erneut aktualisiert und das sogenannte Cluster-System für die Verbesserung der Nothilfekoordination entwickelt.

Heute ist die Landschaft der Hilfsorganisationen mit Cluster-Systemen für Bereiche wie Gesundheit, Unterkunft, Wasseraufbereitung und sanitäre Versorgung gefüllt, die unrealistischerweise versuchen, Hilfsorganisationen - große und kleine unterschiedlicher Kapazitäten - unter einer Führung zusammenzubringen. Seit dem Erdbeben zählt das UN-Gesundheitscluster allein 420 Organisationen in Haiti.

Versagen des Systems

Statt technische Unterstützung anzubieten, von denen viele NGOs profitieren könnten, sind diese Cluster bestenfalls geeignet, Basisinformationen und wenige konkrete Lösungen während einer sich rasch ausbreitenden Notlage weiterzugeben. Ich erlebte, wie der haitianische Präsident René Préval persönlich den Vorsitz bei einem Gesundheits-Cluster-Meeting inne hatte - ein letzter verzweifelter Versuch, der Choleraeindämmung Starthilfe zu geben. Das machte das Versagen des Systems nur zu deutlich.

Koordination von Hilfsorganisationen mag für die Geberregierungen gut klingen, die politischen Einfluss suchen. In Haiti allerdings legitimiert dieses System Organisationen, die Zuständigkeiten für Gesundheit, Wasserversorgung oder andere Bereiche einfordern, dann aber nicht die Kapazitäten oder das Know-how haben, die notwendige Arbeit auch auszuführen. Das Ergebnis: Die Grundbedürfnisse der Menschen bleiben unerfüllt. Natürlich ist auch Koordination wichtig, aber sie muss realitätsnah und handlungsorientiert sein und darf nicht, wie hier geschehen, zum Selbstzweck verkommen.

In Haiti wird der Choleraausbruch daher in absehbarer Zukunft wohl weitere Menschenleben fordern - unnötigerweise: Das Scheitern der internationalen Hilfe in ihrer Gesamtheit ist für die tragische Entwicklung mitverantwortlich. (Unni Karunakara, DER STANDARD-Printausgabe, 10.1.2011)