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Gidon Kremer: "Dmitri Medwedew hat selbst erklärt, Russland sei für eine parlamentarische Demokratie noch nicht reif genug. Erschreckend, wenn das ein Präsiden sagt!"

Foto: REUTERS/Ints Kalnins

Ein Gespräch über die Demokratie in Russland und Kremers Sympathie für "fallende" Zeitgenossen.

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Wien - Sie war wohl keinesfalls mühelos, die Produktion von Gidon Kremers De Profundis-CD: "Zuerst wollte ich bei Nonesuch etwas von Astor Piazzolla aufnehmen. Das hat jedoch das Label nicht interessiert. Als ich dann schließlich mit der Kremerata Baltica ins Studio ging, existierten an die zehn CD-Konzepte, und während wir aufnahmen, kamen die Noten teilweise ja erst an."

Eine wahnsinnig "intensive Zeit" wäre das gewesen. "Am Schluss wussten wir nur, etwas Gutes geleitet zu haben - wie ich das konzeptuell bündeln sollte, wusste ich nicht. De Profundi hätte auch Footprints heißen können, es geht ja um Schlaglichter auf verschiedene Jahrhunderte."

So langsam kristallisierte sich aber doch etwas heraus, nun ist es eine runde Sache geworden: Da ein melancholisches SchwarzWeiß-Cover, das Bilder von Öl zeigt, dort eine Musik zwischen Auerbach und Sibelius, die Schwermut, Trauer und Tiefe ausstrahlt. Mit dem öligen Cover ließ sich sogar ein tagesaktueller Aspekt berücksichtigen, der den aus Lettland stammenden Ausnahmegeiger beschäftigt: Kremer hat De Profundis dem im Gefängnis einsitzenden ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowski gewidmet, der durch den Ölkonzerns Yukos zu Reichtum gekommen war und dessen Prozessschicksal nun global als Beispiel für die demokratischen Defizite Russlands herangezogen wird.

Die Freiheit des Künstlers

"Ich kenne Chodorkowski nicht. Ich bin nur seiner Mutter begegnet, habe allerlei Interviews gelesen und fungiere nicht als Gericht. Ich bin schlicht kein Experte, was seine vermeintlichen Verbrechen anbelangt. Als Künstler nehme ich mir jedoch das Recht heraus zu glauben, dass er kein Verbrecher ist. Er hat als Geschäftsmann die Gesetze ausgenutzt, um ein Imperium aufzubauen. Er hat das getan, was andere Oligarchen auch taten, von denen manche heute die besten Freunde der Regierung sind. Ihn beschloss man jedoch zu vernichten. Ich finde das ungerecht."

Womöglich wird das Engagement für Kremer, der in Moskau studierte und 1978 entschied, nicht mehr in die damalige UdSSR zurückzukehren, in einer Enttäuschung enden. Als Künstler allerdings "darf ich mir auch eine Täuschung erlauben". Im Grunde gehe es, frei nach Dichter Alexander Puschkin, ohnedies darum, "Mitleid mit den Fallenden zu haben. In diesem Fall habe ich Mitleid. Auch geht es um Trost und Trauer, und Musik bietet beides. Beide sind auch wichtiger als Beschuldigungen." Gidon Kremer jedenfalls hofft, "dass die Töne Chodorkowski erreichen, ihn für eine Stunde zumindest vom tristen Alltags ablenken".

Würde er in Moskau öffentlich ebenso reden? "Ich würde es wagen, inzwischen sind wir dort doch so weit. Totale Demokratie gibt es natürlich nicht. Dmitri Medwedew hat selbst behauptet, Russland sei für eine parlamentarische Demokratie noch nicht reif genug. Erschreckend, wenn das ein Präsident sagt - das wäre doch etwas, das man zumindest anstreben müsste! Aber dazu eine Kleinigkeit: Es gibt etwa die russische Zeitschrift Snob, finanziert vom Oligarchen Mikhail Prokhorov."

Kremer weiß von dem Magazin, da seine Tochter dort arbeitet. "Jedenfalls erschien in Snob etwas zu dieser De Profundis-CD und deren Hintergrund. Ein leises kritisches Wort wird also zugelassen. Ob aber nur deshalb, um zu sehen, wer hinter dem Wort steckt, kann man natürlich nicht ausschließen. Jedenfalls: Ich würde es wagen, das Thema Chodorkowski anzusprechen. Wobei es mir nicht um Kampagnen geht, ich war nie Politiker und will auch keiner sein." Und klar ist auch: Gesellschaftspolitisches Engagement darf nicht als Alibi für mangelnde Musikqualität herhalten. Tut es nicht. Die Kremerata Baltica und ihr Namensgeber agieren voller Intensität und setzen das um, was Kremer ästhetisch vorschwebt:

"Ich will kammermusikalische Spontaneität und Charakter hörbar machen; man soll schnell erkennen, wer da spielt." Hier nie ein echtes Problem. (Ljubiša Tošić, DER STANDARD - Printausgabe, 10. Jänner 2011)