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Für Kardinal Christoph Schönborn ist jeder Austritt "schmerzlich".

Foto: apa/Jaeger

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Austrittswellen seit 1981 und die Austritte nach den Bundesländern.

Grafik: apa

Die Zahl der Kirchenaustritte in Österreich ist auf einem neuen Rekordhoch: 87.393 Personen haben 2010 die römisch-katholische Kirche verlassen (2009: 53.269). Das ergeben die vorläufigen Zahlen der Diözesen, die am Dienstag via Kathpress veröffentlicht wurden. Die Zahl der Austritte ist somit um rund 64 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen. Als Hauptgrund für diesen Höchststand seit 1945 nennt die Kirche das Bekanntwerden der teilweise Jahrzehnte zurückliegenden Missbrauchsfälle.

Mit Stichtag 31. Dezember 2010 gab es rund 5,45 Mio. Katholiken in Österreich. Ein Jahr zuvor zählte die Kirche noch 5,53 Mio. Mitglieder. Der starke Anstieg bei den Kirchenaustritten ereignete sich nach Angaben der Diözesen vor allem in der ersten Jahreshälfte 2010 und ist im Sommer wieder deutlich zurückgegangen.

"Vom Traditionschristentum zum Entscheidungschristentum"

Kardinal Christoph Schönborn sieht im Rekordhoch bei den Kirchenaustritten ein "Zeichen neuer Freiheit". Dies geschehe vor dem Hintergrund der Entwicklung "vom Traditionschristentum zum Entscheidungschristentum", sagte er am Dienstag via Kathpress. Zugleich betonte er, dass jeder einzelne Austritt "schmerzlich" sei. Der innerkirchliche Missbrauchsskandal habe die hohe Zahl an Kirchenaustritten im Jahr 2010 sicherlich mitbedingt, die Ursachen für einen solchen Schritt würden letztlich aber meist viel tiefer liegen.

Für Schönborn ist die Zugehörigkeit zur Kirche heute "eine Sache der freien Entscheidung und nicht mehr der Tradition". Zugleich meinte der Kardinal: "Die Beziehung jedes Menschen zu Gott geht weiter, auch nach einem Kirchenaustritt. Aus der Liebe Gottes kann man nicht austreten." Angesichts des österreichischen Kirchenbeitragssystems müsse man jedes Jahr beim Anblick des Erlagscheins aufs Neue entscheiden, ob man in der Kirche bleibe. Wer in der Kirche bleibt, tue dies bewusst.

Studie: 44 Prozent denken an Wiedereintritt

Seitens der Kirche sollte auch stärker thematisiert werden, was die Menschen dazu bewegt, zu bleiben, so Schönborn. Der Wiener Erzbischof verwies überdies auf eine bisher noch nicht veröffentlichte Studie des Pastoraltheologen Paul Zulehner, wonach bis zu 44 Prozent der Ausgetretenen ernsthaft daran gedacht haben, wieder in die Kirche einzutreten.

Kapellari "betroffen"

Der Grazer Bischof Egon Kapellari zeigte sich in einer Aussendung "betroffen" über die hohen Austrittszahlen, die er zu einem Teil im innerkirchlichen Missbrauchsskandal begründet sieht. "Es tut sehr weh, dass viele Katholiken sich in diesem Zusammenhang von der Kirche abgewandt und ihren Kirchenaustritt erklärt haben", so Kapellari.

Kapellari wies zugleich darauf hin, dass für nicht wenige Ausgetretene diese Entscheidung nur der letzte Schritt einer schon lange in Gang befindlichen Entfernung gewesen sei. Sie hätten den Eindruck, die Kirche werde heute nicht mehr gebraucht und habe wenig Relevanz für das eigene Leben. Kapellari: "Solche Entscheidungen haben wir zu respektieren."

"Radikal ehrlicher Umgang" mit Missbrauch gefordert

Im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in den Reihen der Kirche befürwortete der Bischof einmal mehr einen "radikal ehrlichen Umgang". Wachsamkeit bleibe ein Dauerauftrag. "Ich hoffe inständig, dass die Kirche aus dieser Krise geläutert hervorgehen wird", so Kapellari.

Die Erzdiözese Salzburg will die verloren gegangenen Schäfchen indes aktiv zum Eintritt bewegen. Für das Frühjahr ist dort die Aktion "Treten Sie ein" geplant, die in vielen Pfarrgemeinden durchgeführt wird.

"Eine Epoche geht zu Ende"

Der Theologe Paul Zulehner hat aufgrund der Austrittswelle im Ö1-Morgenjournal eine Veränderung der Kirche von einer Volkskirche zu einer „Wahlkirche" festgestellt. „Die kontinuierliche Austrittsentwicklung ist der Hinweis darauf, dass eine Epoche für die Kirche in Europa zu Ende geht", so Zulehner. Früher sei Religion Schicksal gewesen, „man konnte in Europa nur Bürger sein, wenn man Katholik war".

Die Missbrauchsskandale seien demnach nicht ursächlich für die Austrittswelle, sondern würden diese nur beschleunigen. „Man muss sich klar sein, dass sich die Kirche möglicherweise wieder in den historischen Normalfall hinein entwickelt", so Zulehner. Dass alle Bürgerinnen und Bürger Katholiken gewesen seien, wäre eine ungewöhnliche Situation gewesen.

"Irritationen abbauen"

Der Universitätsprofessor schlägt zudem vor, dass die Kirche „Irritationen" im Bereich der Scheidung, der Frauen und der „Rede über Kondome und Sexualität" abbaut. „Einige Entscheidungen sind möglich und fällig und dem Papst ist zuzutrauen, dass er in der Frage der Scheidung einen guten Schritt tut", glaubt Zulehner.

Schönborn: Weniger Menschen, weniger Katholiken

Mehr Austritte, weniger Mitglieder, weniger Geld in der Kassa: Auf diese Entwicklung habe sich die römisch-katholische Kirche längst eingestellt, betont Kardinal Christoph Schönborn im Ö1-Mittagsjournal: "Das tun wir seit Jahren. Die Katholikenzahl geht zurück, aber auch allgemeine Bevölkerungszahl geht zurück. Die Alterspyramide ist so, dass wir auch ohne Austritte weniger Katholiken haben werden."

Den Mitgliederschwund insgesamt beurteilt der Erzbischof von Wien und Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz betont gelassen, im Lichte der historischen Entwicklung: "In Österreich war die katholische Kirche lange Staatskirche. Das ist vorbei."

Die römisch-katholische Kirche sei eben nicht mehr diese prägende Traditionskraft. "Es schmerzt jeder Kirchenaustritt. Heute ist jemand der bei der Kirche ist, bewusst bei der Kirche." Früher sei die Kirchenzugehörigkeit oft reine Tradition gewesen - heute sei sie eine bewusste Entscheidung aus dem Glauben.

Kritiker geben Kirchenleitung 

Für die Plattform "Wir sind Kirche" trägt die Kirchenleitung die Verantwortung für die hohen Austrittszahlen bei den österreichischen Katholiken. Diese verhindere Reformen, verweigere den Dialog und habe zudem Gewalt und sexuelle Übergriffe an Kindern vertuscht, hieß es am Dienstag in einer Aussendung. Die Plattform fordert eine "ernstzunehmende Ursachenforschung" sowie abermals Reformen.

"Die Ausgetretenen haben dazu Stellung bezogen und sind eigenverantwortlich ihrem Gewissen gefolgt", schlussfolgerten Hans Peter Hurka und Gotlind Hammerer von "Wir sind Kirche". Die Kirchenleitung habe die Übergriffe indirekt geduldet  und halte weiterhin trotz des zunehmenden Priestermangels und der Existenzbedrohung der Pfarrgemeinden am Pflichtzölibat "ohne Wenn und Aber" fest. Zudem würden Frauen ausschließlich wegen ihres Geschlechts, Geschiedene und wiederverheiratete oder homosexuell lebende Menschen generell weiterhin diskriminiert. (APA/red, derStandard.at, 11.1.2011)