Wenn man die katholische Kirche Österreichs mit einiger Distanz betrachtet, dann kann man nur zwei Themen ausmachen, die sie wirklich beschäftigen: die steigende Zahl aufgedeckter Missbrauchsfälle - und die sinkende Zahl derer, die sich zu ihr bekennen.

Womit der Effekt noch verstärkt wird: Wer die Kirche verlassen hat, nimmt erst recht nur diese beiden Fragen als relevant wahr. Und wer - noch - dabei ist, bekommt oft auch nichts anderes mit. Man muss schon in den Sonntagsgottesdienst eines guten Priesters gehen, um zu erfahren, wofür die Kirche eigentlich da ist: den Menschen den Weg zum Heil zu weisen - und ihnen zu helfen, ihr Leben im Diesseits danach auszurichten.

Das ist das eigentliche Geschäftsfeld der Kirche - und es klingt derartig jenseitig, dass sich selbst engagierte Christen nicht mehr trauen, es auszusprechen. Es fällt ja auch viel leichter, über gelebte Caritas zu sprechen (und Spenden für die gleichnamige Organisation einzumahnen), oder über die Demokratisierung der kirchlichen Strukturen, den Wert zölibatären Lebens und die Kunstwerke des christlichen Abendlands. Sogar das Bekenntnis zu den Verfehlungen einzelner Geistlicher scheint einfacher zu sein als die Verkündung des Glaubens an ein ewiges Leben.

Nun kann man einwenden, dass diese Verkündung doch keinen Nachrichtenwert hätte - selbst der Heilige Vater schafft es mit seinen Segenswünschen nur an allerhöchsten Feiertagen in die Nachrichten. Das heißt aber nicht, dass die gute Nachricht vom ewigen Leben niemanden interessieren würde. Aller mögliche Hokuspokus hat weiten Zulauf - nur nicht die Altäre, wo das Wort Hokuspokus („Hoc est enim corpus meum", also: „Dies ist nämlich mein Leib", die Formel der heiligen Wandlung) seinen Ursprung hat. 

Es entspricht offenbar mehr dem Zeitgeist, sein Heil bei Hexenkulten und bei Sekten, bei Gurus und Wanderpredigern, bei Aberglauben und Götzenbildern zu suchen. Oder bei anderen Religionen: Dem Islam, dem in der Öffentlichkeit mindestens ebenso oft wie der Kirche vorgeworfen wird, unmodern und undemokratisch zu sein, laufen die Menschen nicht in Scharen davon, im Gegenteil. Viele Menschen, nicht nur solche mit frischem Migrationshintergrund, finden in dieser oder jener Ausprägung des Islam das, was die katholische Kirche heute nicht mehr zu vermitteln wagt: „Re-ligio", die Rückbindung an Gott.

Religion zu vermitteln, das heißt: den Glauben leben und andere mit der Freude daran anzustecken; Orientierung geben über die alltäglichen, aber den Blick auf das Wesentliche verstellenden Sorgen hinaus. Natürlich schließt das für einen Christen das Bekenntnis zu seiner eigenen Sündhaftigkeit und zur Mitverantwortung für die Sünden seiner Glaubensbrüder ein. 

Aber dass sich die Kirche nur noch mit sich und ihren Problemen befasst, ist eine Fehlentwicklung, die rasch gestoppt werden muss. Sonst werden auch in diesem Jahr wieder zehntausende Kirchenbeitragszahler verloren gehen: Denn für so eine Kirche ist es um jeden Euro schade. Das spüren die Menschen, die austreten. Nicht, dass sie sich eine Kirche wünschen, die ihnen wie in der Gegenreformation Vorschrift um Vorschrift macht. Doch eine Kirche, die Leitlinien für ein gottgefälliges Leben im Diesseits vermittelt und ewiges Leben im Jenseits verspricht, könnte sich im Markt behaupten. (Conrad Seidl, DER STANDARD, Printausgabe, 12.1.2011)