Otfried Nassauer ist Friedensforscher und leitet seit 1991 das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

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Die Nachricht von dem erfolgreichen Jungfernflug des neuen chinesischen Tarnkappenjägers J-20 verbreitete sich am Dienstag in Windeseile und überraschte die Delegation des US-Verteidigungsministers Robert Gates, als dieser gerade in Peking mit Staats- und Parteichef Hu Jintao zusammentraf. China demonstriert mit dem Prototypen seine rasant fortschreitenden militärischen Fähigkeiten. Der renommierte Friedensforscher Otfried Nassauer sprach mit derStandard.at über Chinas "Operation Aufrüstung", inwiefern Peking sich zu einer globalen Militärmacht aufschwingen kann und wie und wo die zweitgrößte Wirtschaftsmacht es mit den Vereinigten Staaten aufnehmen kann.

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derStandard.at: Trotz chinesischer Internetzensur waren in den vergangenen Tagen Berichte über Chinas Anstrengungen zum Bau eines Tarnkappen-Kampfjets online. Der Jet absolvierte am Dienstag auch schon seinen ersten Testflug. Die Nachricht platzte in den Besuch des US-Verteidigungsministers Robert Gates in Peking. Eine Provokation? An wen ist sie gerichtet? USA oder intern?

Otfried Nassauer: Eine Provokation war das nicht, aber eine Demonstration. China modernisiert sich in atemberaubendem Tempo und natürlich macht die Modernisierung auch vor chinesischen Rüstungsprodukten nicht halt. Wer anderes erwarten würde, kann nur irren. Wirtschaftlich ist China eine Weltmacht, militärisch aber für viele Jahre noch eine Regionalmacht. Der Tarnkappenjet J-20 wird wohl noch etliche Jahre brauchen, bis er wirklich einsatzfähig ist. Die Bilder zeigen einen Prototyp oder vielleicht auch nur ein Versuchsflugzeug - also ein neues Flugzeug, das derzeit noch mit vielen langjährig erprobten Komponenten ausgestattet sein dürfte, die erst in einigen Jahren durch neu entwickelte abgelöst werden sollen. So machen das ja auch westliche Rüstungskonzerne: Der Eurofighter flog 1994 erstmals, aber mit einem Tornado-Triebwerk. 2006 wurde er in Dienst gestellt - immer noch mit vorläufiger Ausstattung, die seither immer wieder aktualisiert wird. Das moderne Radar, mit dem er seine volle Leistungsfähigkeit erreichen soll, hat er bis heute nicht.

derStandard.at: US-Verteidigungsminister Robert Gates befindet sich derzeit auf Chinareise und wurde in den Medien mit dem Satz zitiert, er sorge sich schon seit 2007 wegen der chinesischen Entwicklung einer Antischiffsrakete. Dass China massiv an der Modernisierung ihrer Volksbefreiungsarmee arbeitet, ist seit langem bekannt. Wann könnte China es mit den USA aufnehmen?

Otfried Nassauer: Wichtiger als das Wann ist das Wo. Selbst den größten Falken in Amerika käme es nicht in den Sinn, China wie den Irak besetzen zu wollen. China kann sich mit relativ geringen Mitteln gegen die USA verteidigen, weil es so groß ist und eine riesige Bevölkerung hat. Nach dem Kalten Krieg wollten die Falken Chinas Aufstieg zur Regionalmacht verhindern beziehungsweise verlangsamen, damit es in Ostasien keine Entscheidungen gegen Washington durchsetzen kann. Heute ist klar, dass die USA Chinas Aufstieg zur Regionalmacht nicht verhindern können. Washington kann künftig Peking in Ostasien seinen Willen nicht mehr jederzeit und überall notfalls militärisch aufzwingen. Selbst wenn es wollte. Washington fürchtet deshalb einen Einflussverlust, zum Beispiel auf Taiwan oder die koreanische Halbinsel.

Es fürchtet, dass China militärisch stark genug wird, um Washington die Option einer Kanonenbootpolitik mit Flugzeugträgergruppen zu verwehren. Da China aber wirtschaftlich zu einer Weltmacht geworden ist und mit den USA viele gegenseitige Abhängigkeiten teilt, sind beide immer stärker auf Diplomatie, Kompromisse und Zusammenarbeit angewiesen. China ist seit Jahren der größte Geldgeber der USA, die USA sind ein riesiger Markt für China. In seiner näheren Umgebung wird es China in zehn oder 15 Jahren vielleicht mit den USA militärisch aufnehmen können, aber global ist das doch noch ein sehr sehr weiter Weg. Bisher rüstet China übrigens auch nicht für Konflikte in aller Welt.

derStandard.at: Gleichzeitig lässt Chinas Verteidigungsminister Liang Guanglie die USA wissen, Pekings Militärtechnologie liege "Dekaden" hinter der amerikanischen zurück und sprach sich für eine engere "Kooperation" zwischen den Supermächten aus. Welches Kalkül steckt hinter diesem "offiziellen" Understatement bzw. handelt es sich hier überhaupt um Understatement?

Otfried Nassauer: Das klingt nach Understatement, ist aber vor allem Ausdruck von Realitätsbewusstsein. Die USA haben rüstungstechnisch einen Riesenvorsprung. Das gilt ja - außer in Nischenbereichen - auch gegenüber Europa. China veranstaltet keinen Rüstungswettlauf mit den USA. Es modernisiert seine völlig veralteten Streitkräfte, aber auch bei weitem nicht so schnell wie es theoretisch könnte. China erweitert vor allem seinen wirtschaftlichen Einfluss, nicht den militärischen. Peking weiß, dass es nach 2025 vor immer größer werdenden innenpolitischen Problemen stehen wird: bei der Überalterung seiner Bevölkerung, der Alters- und Gesundheitsversorgung usw.. Dagegen hilft keine militärische, sondern nur weltwirtschaftliche und finanzielle Stärke.

derStandard.at: Äußert Gates seine Besorgnis offiziell, hat die USA natürlich auch die Gelegenheit, im Gegenzug eigene Aufrüstungsbemühungen zu rechtfertigen. Welche konkreten Interessen stehen hinter einer Dualität zwischen USA und China? Taiwan? Rohstoffe? Wirtschaftsinteressen?

Otfried Nassauer: Natürlich dient die Warnung vor Chinas potentieller militärischer Stärke auch der Rechtfertigung der exorbitanten Rüstungsausgaben der USA. Deshalb steckt in den Warnungen vor Chinas künftiger potentieller Stärke auch oft ein gehöriges Maß an Übertreibung. In den 80er Jahren verfasste die US-Regierung jedes Jahr eine Broschüre über die Sowjetische Militärmacht. Nach dem Kalten Krieg wurden die Übertreibungen sichtbar. Die Broschüre gibt es nicht mehr. Dafür aber Jahresberichte über China. Es lässt sich leichter rechtfertigen, Steuergelder ins Militär zu stecken, wenn man gefährliche Bedrohungen vorweisen kann, auch Bedrohungen die übertreiben und einen Riesen mit Namen Popanz malen.

Hinter der "roten-gelben Gefahr" aus China stehen natürlich die Interessen derer, die US-Präsident Eisenhower einmal zum "militärisch-industriellen Komplex" zählte. Und natürlich gibt es Interessenkonflikte bei Rohstoffen, in Wirtschafts- und Währungsfragen und in der Regionalpolitik, zum Beispiel in der Taiwan-Frage und bei der amerikanischen Sicherheitsgarantie für Taiwan. Auch damit kann man innenpolitisch punkten, wenn man sie als bedrohlich schildert. Trotzdem: Die Verflechtungen zwischen den USA und China sind inzwischen so groß, dass beiden Seiten in fast allen Fällen mit Kompromissen besser gedient ist als mit einer militärischen Kraftprobe.

derStandard.at: Auch die USA haben in den vergangenen Jahren gegen China aufgerüstet (z.B. Stationierung von U-Boot gestützten Marschflugkörpern im südkoranischen Pusan). Was würde die mögliche Änderung der aktuellen Machtbalance im Pazifik für andere Länder bedeuten?

Otfried Nassauer: Die USA haben in den vergangenen zehn Jahren agiert, als stehe der größte Teil Asien in diesem Jahrhundert unausweichlich vor ähnlich großen Machtverschiebungen wie Europa in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, als könnten dort Weltkriege ausbrechen. So als müsse sich Washington entscheiden, auf die militärischen Konflikte dieses Kontinents zu reagieren oder diese Machtverschiebungen selbst voranzutreiben. Zunächst sah es so aus, als habe man sich für die zweite Variante entschieden. Inzwischen wurde im Irak und in Afghanistan klar, dass für eine solche Strategie selbst die Kraft der Supermacht USA wohl doch nicht reicht. Ein Großkonflikt mit China liegt deshalb kaum im Interesse der USA. Marschlugkörper in südkoreanischen Häfen sind eher ein Signal an den Norden als an Peking. Dessen Einfluss in der Region wird vermutlich in den nächsten zehn oder 20 Jahren noch wachsen, sodass viele Länder in der Region ihre politische Orientierung zwischen Peking und Washington neu ausbalancieren müssen. Das werden sie auch tun - immer mit Blick auf ihre eigenen Interessen und auf die Frage, ob sie diese besser beim großen Nachbarn oder beim großen Bruder gewahrt wähnen.

derStandard.at: Was bedeuten die jüngsten Ereignisse in Korea für das Verhältnis USA-China?

Otfried Nassauer: Das Säbelrasseln zwischen den beiden Koreas ist für beide eher eine Belastung. Es lässt Unwägbarkeiten aufkommen und beide mögliche Irrationalität befürchten. Das gilt für China noch mehr als für die USA. Deshalb ist es aber auch vermutlich ein Anlass für beide Länder, hinter den Kulissen intensiv zu kommunizieren und auf Nord- und Südkorea Einfluss zu nehmen oder Druck auszuüben. Für China ist dieses Problem noch größer als für die USA. (mhe, derStandard.at, 12.11.2011)