In Tunesien schieße die Polizei auf Kopfhöhe auf Demonstranten, doch der Westen schaue weg, meinte am Donnerstag der in Paris lebende Schriftsteller Adelwahab Meddeb voller Entrüstung. Auch die EU - die in den letzten Jahren über zwei Milliarden Euro an Entwicklungshilfe an Tunis entrichtet hat - kritisiert die Repression nur mit gewählten Floskeln. Warum? Die Erklärung findet sich in Paris. Frankreich spielt eine wichtige, ja zentrale Rolle als Bindeglied zwischen Europa und Nord- und Westafrika. Der ganze Maghreb, aber auch die Sahelzone und die westafrikanische Küste waren einmal französische Kolonien oder Protektorate. Viele Franzosen und namentlich Politiker pflegen engste Beziehungen nach Nordafrika, einige von ihnen sind dort geboren. Der sozialistische Bürgermeister von Paris, Bertrand Delanoë, kam zum Beispiel in Tunesien auf die Welt - und äußert nun fast Verständnis für das harte Durchgreifen von Präsident Ben Ali.

Konservative Politiker unterstützen das Regime sogar offen: Außenministerin Michèle Alliot-Marie, eine der einflussreichsten Politikerinnen Frankreichs, bietet der Regierung in Tunis gar französische Schützenhilfe an: "Das weltweit anerkannte Knowhow unserer Sicherheitskräfte sollte ermöglichen, solche Situation zu regeln", meinte sie mit Verweis auf die Krawalle in Tunesien.

Frankreich, die selbst erklärte Nation der Menschenrechte, will also einem diktatorischen Regime zu Hilfe eilen. "Ich schäme mich für mein Land" , kommentierten am Donnerstag einzelne Franzosen im Internet. Die Staatsführung in Paris schließt indes die Augen. Sie hat Angst vor einem Überschwappen der Krawalle auf die maghrebinisch geprägten Banlieue-Vorstädte um Paris, Lyon oder Marseille und ihr liegt an den Handelsbeziehungen mit den Regierungen Nord- und Westafrikas - und mit Tunesien als Urlaubsziel. Zudem verspricht der Laizist Ben Ali, er banne die Gefahr des islamischen Djihadismus in seinem Land. Dabei fördert der Nepotismus seines Familienclans - die US-Botschaft in Tunis sprach laut Wikileads sogar von "Fast-Mafia" -Zuständen - nur die Ausbreitung der Islamisten im tunesischen Untergrund.

In West- und Nordafrika gibt Frankreich das Verhalten Brüssels vor. Die EU zieht Vorteile daraus, profitiert sie doch von den historischen Beziehungen Frankreichs, nimmt aber auch das Diktat der französischen Realpolitik in kauf. Das ist nicht gerade mutig, aber bequem. Schließlich wollen auch andere als französische Europäer noch lange nach Tunesien in den Urlaub fahren. (Stefan Brändle aus Paris/DER STANDARD, Printausgabe, 14.1.2011)