Rudolf Steiner, 1919, arbeitet an seiner Figurengruppe "Der Menschheitsrepräsentant".

Foto: Staatsarchiv Basel-Stadt / Gertrud von Heydebrand-Osthoff

"Der Doktor hat gesaaagt! Der Doktor hat gesaaagt", gackerten wir Waldorfschüler seinerzeit gelegentlich wie die Hühner. Unser Spott galt jenen "Super"-Anthroposophen, die verbissen die Lehre des "Doktor Steiner" auf Punkt und Komma umzusetzen trachteten und all jene, die auch nur einen Millimeter davon abwichen, tadelnd zurechtwiesen. Dass wir mit unserem rebellischen Geblödel einen zentralen Punkt im Umgang mit dem Werk Rudolf Steiners trafen, konnten wir damals nicht einmal erahnen. Wussten wir doch nicht annähernd, was "der Doktor" in seinen insgesamt 6511 Vorträgen tatsächlich gesagt hatte - und in Summe umfasst sein Gesamtwerk immerhin rund 90.000 Druckseiten.

Wenn Steiner etwa in den Vorträgen für die Lehrer der ersten Waldorfschule für die Kinder der Arbeiter in der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik betonte: "... ich möchte ja aus Ihnen nicht lehrende Maschinen machen, sondern freie, selbstständige Lehrpersonen." Oder, vor dem Verein "Freie Waldorfschule": "So steht der Waldorfschullehrer da: Er hat keine Paragrafen, sondern Ratschläge; Ratschläge, die er nach seiner eigenen Individualität gestalten muss. Jeder ist doch ein anderer Mensch ..."

Steiner, bei einigen seiner Anhänger der Übervater, die Leitfigur, die nicht infrage gestellt werden darf. Und dem gegenüber eine zentrale Botschaft seines Werkes: Die immer wieder ausgerufene Freiheit des Individuums, wie er sie weit über sein Werk Die Philosophie der Freiheit hinaus entwickelte.

Eine fatale Kluft - denn im Grunde arbeiteten jene gelegentlich anthroposophische Einrichtungen dominierenden dogmatischen Buchstabenreiter genau jenen in die Hände, die Steiner und sein Vermächtnis immer wieder massiv kritisierten. Die die Anthroposophie als sektiererische, autoritäre Bewegung darstellten.

Wie etwa in dem Werk Schwarzbuch Anthroposophie von Guido und Michael Grandt. Eine Anprangerung der angeblich "obskuren Weltanschauung" hinter Waldorf-Einrichtungen, die eher kläglich endete - da vor Gericht derart viele falsche Behauptungen und unkorrekte Zitate nachgewiesen wurden, dass das Buch regelrecht eingeschwärzt werden musste und so ironischerweise zu einem buchstäblichen "Schwarzbuch" wurde. Der Verkauf in Deutschland und in der Schweiz wurde daraufhin eingestellt - interessanterweise nicht aber in Österreich.

Österreich, die Heimat Rudolf Steiners, in der die Waldorf- und Anthroposophie-Bewegung immer noch vergleichsweise ein Nischendasein fristet. Wo etwa die Christengemeinschaft nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt ist - in Deutschland und in der Schweiz hingegen schon.

2011 jährt sich Steiners Geburtstag zum 150. Mal - und auch 86 Jahre nach seinem Tod wird über sein Werk und seine Thesen immer noch heftig diskutiert, wie schon zu seinen Lebzeiten. Im Mittelpunkt der heutigen Kritik steht oft der Vorwurf, Steiner habe rassistische und nationalistische Thesen vertreten. Von anthroposophischer Seite werden dem regelmäßig eindeutige Aussagen Steiners entgegengehalten - wenn es etwa in Die spirituellen Hintergründe der geistigen Welt heißt: "Ein Mensch, der heute von dem Ideal von Rassen und Nationen und Stammeszusammengehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen sogenannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit. Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen."

Oder, in Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien: "So aber auch wird das, was durch die anthroposophische Bewegung an die Menschheit herantritt, auf der einen Seite etwas, was jeden Menschen angeht, gleichgültig aus welcher Rasse, Nation und so weiter er herausgeboren ist, denn es wendet sich nur an die neue Menschlichkeit, an den Menschen als solchen, aber nicht an ein allgemeines Abstraktum ,Mensc', sondern an jeden einzelnen Menschen."

Genau das spiegelt sich inzwischen auch in der Internationalität anthroposophisch inspirierter Einrichtungen wider: So gibt es mehr als 1000 Waldorfschulen und rund 1500 Waldorf-Kindergärten weltweit - auf allen fünf Kontinenten. Eine pädagogische Institution, die ausgerechnet von Günter Haider, dem österreichischen "Mister Pisa", als Vorbild für die aktuelle Diskussion zur Schulautonomie genannt wird.

Den Vorwurf, eine Sekte zu sein, bekommt wohl die ebenfalls durch Rudolf Steiner mitinitiierte Kirche zu hören: Auch die Christengemeinschaft ist inzwischen in 32 Ländern vertreten und umfasst rund 35.000 Mitglieder. Eine Zahl, die täuscht - denn in dieser Glaubensgemeinschaft werden nicht automatisch alle Getauften als Mitglieder gezählt, sondern nur solche, die sich als Erwachsene aus freien Stücken entschließen, der Kirche beizutreten.

Eine Sekte? Ein zentraler Grundsatz der Christengemeinschaft ist die Glaubensfreiheit des Individuums. Eine offizielle, verbindliche Lehre gibt es nicht - und im Grunde ist das einzige Dogma, das diese Gemeinschaft anerkennt, die Existenz einer geistigen Welt. Es gibt keine "Lehrgewalt" und keine "Weisungsbefugnis" der Kirchen-"Lenker" gegenüber den Priestern, die Lehrfreiheit besitzen und an kein bestimmtes Glaubensbekenntnis gebunden sind. Bezeichnenderweise wurde die Christengemeinschaft 1941 von den Nationalsozialisten verboten - mit der offiziellen Begründung, dass der durch Anthroposophen verbreitete Individualismus mit dem völkischen Gedanken des Nationalsozialismus nicht vereinbar sei.

Dazu kommt ein weites Feld von nach anthroposophischen Prinzipien produzierten Konsumgütern. Wie etwa von den durch Steiner und Ita Wegman gegründeten Unternehmen, die heute als Unternehmensgruppe unter dem Markennamen Weleda in 50 Ländern präsent sind: Weleda, der weltweit führende Hersteller im Bereich der Komplementär-Medizin, produziert rund 1400 Arzneimittel auf anthroposophischer Grundlage und als zweites Standbein rund 100 Naturkosmetika.

Ähnlich auch das Bild bei den Demeter-Betrieben, die nach den Prinzipien der von Steiner begründeten biologisch-dynamischen Landwirtschaft arbeiten: Von Argentinien bis Ungarn sind es inzwischen 3500 Betriebe in 38 Ländern, die insgesamt rund 100.000 Hektar bewirtschaften.

In jüngster Zeit sind es in Österreich übrigens vor allem immer mehr Weinbauern, die ihre Betriebe nach biologisch-dynamischen Grundsätzen umstellen - und auch gemeinsame Abende mit dem Lesen der Werke Steiners verbringen. "Ich versteh' nicht alles Kosmische", meinte einmal der burgenländische Topwinzer Franz Weninger in einem Gespräch. "Man muss ja nicht alles verstehen. Aber es funktioniert."

Einer der derzeit größten Demeter-Betriebe ist die von Ibrahim Abouleish gegründete Sekem-Initiative in Ägypten: Das Sekem-Gemeinwesen umfasst inzwischen eine Gemeinschaft von rund 2000 Personen, die etwa Baumwolle, Kräuter oder Tees in ehemaligen Wüstengebieten produziert und inzwischen auch eine eigene Schule und Universität gegründet hat. Sekem wurde 2003 mit dem Alternativ-Nobelpreis ausgezeichnet. Abouleish selbst betont, dass die Geisteswelt Steiners durchaus mit dem Islam vereinbar sei.

"Der Konsum von Produkten, die anthroposophisch inspiriert sind, ist inzwischen längst im Mainstream angelangt", analysiert Stephan Siber. Der junge Wiener ist in der Informatik-Branche tätig - und koordiniert gemeinsam mit Vera Koppehel vom Rudolf-Steiner-Archiv in Dornach all jene Aktivitäten zu Steiners 150. Geburtstag, die weltweit veranstaltet werden.

Doch während auf der einen Seite etwa Weleda- und Demeter-Produkte Anklang finden, ohne dass vielen bewusst ist, welche Geistesanschauung hinter ihrer Herstellung steckt - werden die Anthroposophen selbst noch vielerorts mit dem Bild abgehobener Vergeistigter im Strickpulli assoziiert. Jene, die die Szene ein wenig kennen, sprechen gelegentlich auch von in violetten Schleiern gewandeten Menschen, die "felsenfest mit beiden Beinen in den Wolken stehen".

Die Lehren "schockgefroren"

"Natürlich gab und gibt es Klischees", weiß Siber, "das liegt zum Teil sicher auch daran, dass die Anthroposophen selbst teilweise die Lehren Steiners dogmatisch schockgefroren haben. Aber da wird indirekt Rudolf Steiner für etwas verantwortlich gemacht, für das er nichts kann." Steiner selbst ist wiederholt vehement gegen Sektierertum und Dogmatismus aufgetreten, "das war ja auch der Grund, warum die Anthroposophische Gesellschaft neu gegründet wurde", erinnert Siber.

Das war 1923, als die erste Anthroposophische Gesellschaft in der Krise steckte. Deren Mitglieder forderten Steiner auf zu sagen, was zu tun sei. Doch er verweigerte sich, wie es Steiner-Biograf Christoph Lindenberg schildert - denn zu oft habe er erlebt, dass seine Anregungen flugs zum Dogma erhoben wurden. Steiner schrieb damals sogar in einem Brief: "Für die Gesellschaft habe ich eigentlich nur zu sagen, dass ich am liebsten mit ihr nichts mehr zu tun haben möchte. Alles, was deren Vorstände tun, widert mich an." Bei der Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft wurde dann in den neuen Statuten explizit festgehalten: "Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab." Und: "Eine Dogmatik auf irgendeinem Gebiete soll von der Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen sein."

Für Stephan Siber ist das heurige Gedenkjahr jedenfalls eine gute Gelegenheit, "Rudolf Steiner von der Wahrnehmung eines Gurus zu befreien". Zitate, in denen sich Steiner selbst gegen eine guruartige Verehrung wehrt und eine selbstständige Entwicklung der einzelnen Individuen fordert, finden sich in seinem Werk jedenfalls zuhauf. Etwa in seinem Buch Die Kernpunkte der sozialen Frage: "Es kommt einer wirklichkeitsgemäßen Denkart nicht darauf an, vollkommene ,Programme' ein für alle Male zu geben, sondern darauf, die Richtung zu kennzeichnen, in der praktisch gearbeitet werden soll. Durch solche besonderen Angaben, wie sie die hier gemachten sind, soll eigentlich nur wie durch ein Beispiel die gekennzeichnete Richtung näher erläutert werden. Ein solches Beispiel mag verbessert werden."

Als eine Wirkung der heurigen Steiner-Veranstaltungen erhofft sich Siber jedenfalls, "dass Steiner auch gewissermaßen ,entsteinert' wird". Dass "eine neue, offene Steiner-Rezeption angeregt wird, in der man sich konstruktiv und durchaus auch kritisch mit der Figur Rudolf Steiners auseinandersetzt".

"Steiner gehört nicht nur den Anthroposophen", zitiert Siber etwa Markus Brüderlin, den Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg. Die Kunstmuseen Wolfsburg und Stuttgart hatten bereits 2010 im Vorfeld des Steiner-Jahres eine ausgesprochen erfolgreiche Doppel-Ausstellung zu einem Thema präsentiert, das bisher weitgehend unbeachtet geblieben war: Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart - eine Doppelschau, in der der persönliche Zugang bedeutender Künstler der Moderne zu Steiner beleuchtet wurde - etwa dem bekennenden Steinerianer Joseph Beuys oder Wassily Kandinsky und Piet Mondrian. Selbst Le Corbusier soll mit Studenten nach Dornach angereist sein, um das zweite Goetheanum zu studieren - das von Steiner entworfene Zentrum der Anthroposophen bei Basel ist eines der ersten organisch gestalteten Gussbeton-Bauwerke der Welt.

Insgesamt werden 60 Werke von 17 Gegenwartskünstlern ausgestellt - von Mario Merz über Anish Kapoor, Helmut Federle, Tony Cragg, Katharina Grosse und Claudia Wieser bis hin zu Manuel Graf und Bernd Ribeck. Dem wurden rund 40 Zeichnungen, Objekte, Modelle, Dokumente und Wandtafelzeichnungen Rudolf Steiners gegenübergestellt.

Eine verblüffende, aber durchaus auch kritische Betrachtung. Wenn etwa Jan Albers anmerkt: "Leider sind es aber oft seine glühendsten Verehrer, die es einem mit Steiner nicht leicht machen. Alles scheint undurchlässiger geworden zu sein, verkapselt und leicht versteinert. Umso aufregender muss es gewesen sein, als es passiert ist. Als Dornach ein Durchlauferhitzer für die unterschiedlichsten Handwerker, Künstler und Denker war."

Ergänzend dazu kam noch die Ausstellung Rudolf Steiner - Die Alchemie des Alltags im Vitra-Design-Museum, das nur etwa 20 Kilometer von Dornach entfernt in Weil am Rhein beheimatet ist. Eine umfassende Übersicht über die Gestaltungswelt und Ästhetik Steiners mit einer Fülle von Exponaten - aber auch Briefe an Steiner von Franz Kafka, Mondrian oder Else Lasker-Schüler. Dazu ergänzende und korrespondierende Werke von Kandinsky, Antoni Gaudi, Frank Lloyd Wright oder eben Joseph Beuys. Rudolf Steiner - Die Alchemie des Alltags wird anlässlich des Steiner-Jahres im Sommer 2011 auch im Wiener Mak zu sehen sein.

Rund 200 größere und kleinere Veranstaltungen haben Siber und Koppehel unter dem Label "150 Jahre Rudolf Steiner" derzeit zusammengetragen. "Von Kapstadt über São Paulo und Manila bis nach Prag, Salzburg und Wien", zählt er auf. So wird etwa Ende Februar der "Rudolf-Steiner-Express" von Köln aus über Steiners Geburtsort Kraljevec nach Österreich fahren. Der Steiner-Express wird übrigens aus InterRegio- Wagons der Deutschen Bahn zusammengestellt: Dieses seinerzeit höchst erfolgreiche Produkt der DB war maßgeblich vom Büro bpr gestaltet worden - ein von Steiners Gestaltungsimpulsen inspiriertes Architektur- und Designbüro in Stuttgart.

In Wien macht der Express exakt zu Steiners Geburtstag am 27. Februar Station, wo in der Nationalbibliothek das Steiner-Jahr in Österreich offiziell eröffnet wird. Nach einer Festansprache von Walter Kugler von der Oxford Brookes University wird dort der neu erschienene Reiseführer Rudolf Steiner in Wien: Die Orte seines Wirkens sowie eine umfassende Publikation Wiener Dialoge - der österreichische Weg der Waldorfpädagogik (erscheint im Böhlau-Verlag) vorgestellt.

"Wege zur Qualität"

Während die Vorbereitungen zum Steiner-Jahr liefen, ist der Autor dieses Beitrags übrigens nach einem guten Vierteljahrhundert der Absenz zu "seiner" Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer zurückgekehrt - als Schülervater. Und erstaunlicherweise ist inzwischen vom alten "Der Doktor hat gesaaagt"-Geist deutlich weniger zu spüren.

Die 1927 eröffnete erste Waldorfschule in Österreich stand gerade unmittelbar vor der Zertifizierung eines Prozesses unter dem Titel Wege zur Qualität - ein anthroposophisch orientiertes Qualitätsverfahren zur gemeinschaftlichen Entwicklung von Gestaltungs-, Verwaltungs- und Kommunikationsprozessen.

Dieser Paradigmenwechsel, der sich an immer mehr "Anthro"-Orten manifestiert, dokumentiert beispielhaft eine Anekdote, die Karl-Martin Dietz, der Gründer des Friedrich- von-Hardenberg-Instituts für Kulturwissenschaften in Heidelberg, beim jüngsten Waldorftag in Salzburg erzählte: Als junger Waldorf-Vater habe er einmal begonnen nachzufragen, warum denn alle selbstgestrickten Mützen der Schüler immer dieselbe Farbe hätten. Seine Söhne fanden die Hauben nämlich an sich okay - aber die Farbe unerträglich. "Als ich den Handarbeitslehrer fragte, warum das so sei, antwortete der mir: Das hat Steiner so angeordnet. Ich fragte, wo das denn stehe - bekam darauf aber keine Antwort." Dietz weiter: "Ich kenne aber ein anderes Zitat von Steiner, von dem ich ganz genau weiß, wo das steht: Es sei der Beginn eines großen Unfugs, wenn man jemandem zumutet zu sagen, etwas müsse so oder so getan werden." (Roman David-Freihsl/DER STANDARD, Printausgabe, 15./16. 1. 2011)