Standard: Rudolf Steiner wurde in eine Zeit hineingeboren, als auf allen Gebieten wahre "Hexenkessel voller Ideen" brodelten. Welchen Rang sprechen Sie ihm in diesem "Laboratorium" zu?

Zander: Wenn ich in der Metaphorik bleibe: Er war ein Alchemist, der den "Stein der Weisen" suchte. Für ihn hieß das: die Suche nach einer spirituellen Innenseite, nach einer Dimension, die er gern als "übersinnliche Welt" bezeichnete. Das Herzstück seiner Weltanschauung war die Annahme, dass das Geistige, Göttliche das wahre Zentrum der Welt bildet, nicht die bloße Materie. Was seine Rolle in dem "Hexenkessel" anbelangt: Hier war er nur einer unter vielen Suchern. Da gab es etwa den Verkünder der Gralsbotschaft, Oskar Ernst Bernhardt, der sich Abd-ru-shin nannte und in Tirol 1928 ein Zentrum gründete, oder den Esoteriker und Mystiker Friedrich Eckstein, um 1900 Besitzer einer der größten esoterischen Bibliotheken in Wien und berühmter Förderer von Anton Bruckner. Es tauchte zu dieser Zeit eine ganze Reihe solcher Weltanschauungskonstrukteure auf. Steiner aber war einer der erfolgreichsten, vielleicht sogar der erfolgreichste unter ihnen.

Standard: Wirkte das intellektuelle Klima im Habsburgerreich besonders prägend auf Steiners Ideen?

Zander: Steiner wuchs im deutschsprachigen Teil des österreichischen Kaiserreichs auf und schüttelte diese Prägung nie ab. Während seiner Studienzeit in Wien las er Fichte und Kant, aber eben auch Philosophen wie Johannes Volkelt, der eine Konzeption objektiver Erkenntnis von Ideen vertrat. Er traf auf ein literarisches Milieu, dem der Theologe und spätere Philosoph Laurenz Müllner, die junge Dichterin Eugenie delle Grazie sowie der national gesinnte und im Habsburgerreich höchst populäre Dichter Robert Hamerling angehörten. Die Esoterik lernte er in einem sehr spannenden Kreis um die spätere Frauenrechtlerin Marie Lang kennen, die damals Theosophin war. In diesem Kreis kam er auch in Kontakt zu der bekannten österreichischen Frauenrechtlerin und Literatin Rosa Mayreder. Allerdings standen Steiner und Mayreder dem theosophischen Milieu damals distanziert gegenüber.

Standard: Sie schreiben, man könne Steiners Biografie als einen lebenslangen Versuch lesen, die von Kant in die Wege geleitete Vertreibung aus dem Paradies eines unmittelbaren Zugangs zur Welt wieder rückgängig zu machen ...

Zander: Steiner hoffte, zuerst naiv als Kind, später reflektiert als Esoteriker, dass wir die Dinge unmittelbar erkennen könnten. Während Kant postulierte, dass wir die Dinge nur in den Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit sehen, war es Steiners Paradies, das Geistige unmittelbar zu sehen. Als Theosoph hoffte er: nicht nur sinnlich, sondern übersinnlich. Diese Hoffnung trieb ihn sein Leben lang um. Über Jahre suchte er, neue Wege zur Erkenntnis des Geistigen zu finden, zuerst in seiner philosophischen Phase am Ende des 19. Jahrhunderts. Seinen zweiten Versuch startete er in der theosophischen Zeit, in der er durch Meditation und deren intellektuelle Begleitung versuchte, dieses Geistige zu erkennen.

Standard: Worin unterscheiden sich die Ideen Steiners von den Ideen der zahlreichen anderen geistigen "Neuerer" , die damals auf den Plan traten?

Zander: Es gibt kaum eine Idee Steiners, die sich nicht auch andernorts, bei anderen Weltanschauungsvertretern findet. Er hat das selbst gesehen und berief sich auf alte Traditionen, die in Wirklichkeit gar nicht so alt waren, sondern fast immer ins 19. Jahrhundert gehörten. Gerade in der religiösen Alternativkultur Wiens um 1900 konnte man auf alles stoßen, was er später auch dachte, von der Herrschaft des Geistes über die Materie, die Philosophie der Alleinheit und die Lehre von der Reinkarnation bis zum esoterische Theater und spirituellen Tanz. Steiners Innovation steckte darin, das vielfältige Wissen im Rahmen einer einheitlichen, monistischen Theorie, wie er es nannte, verarbeitet zu haben. Er legte über die vielen Bereiche ein großes Netz, seine theosophische, später anthroposophische Weltanschauung.

Standard: Erstaunlich ist Steiners feindselige Haltung gegenüber Sigmund Freud und der Psychoanalyse. Vermutete er in der Psychoanalyse eine Art "Konkurrenz" ?

Zander: Das kann man so deuten. Steiner hatte in Wien Gelegenheit, die Psychoanalyse kennenzulernen, zumal er Hauslehrer bei der jüdischen Familie Specht war. Hier verkehrte der Arzt Joseph Breuer, der mit Freud Studien über Hysterie betrieb. Aber Steiner zeigte kein Interesse daran. Historisch ist vielmehr spannend, dass sowohl die Theosophie als auch die Psychoanalyse gleiche Wurzeln haben. Beide besitzen enge Verbindungen zum frühen Spiritismus und zur Hypnose-Debatte. Davon wusste Steiner aber möglicherweise nichts. Und die Gründe seiner in der Tat scharfen Gegnerschaft zur Psychoanalyse in seiner theosophische Zeit sind viel einfacher: Er betrachtete Freud als einen Materialisten, der den Geist ausgetrieben habe.

Standard: Befremdlich wirken Steiners nationalistische und rassistische Neigungen. Stand sein Deutschnationalismus, für den Sie Beispiele liefern, nicht in Widerspruch zur idealistischen Ausrichtung seines Denkens?

Zander: Steiner hatte das Rüstzeug, beide Dimensionen, die uns heute kontradiktorisch scheinen, zusammenzudenken. Seiner Auffassung zufolge fand eine Evolution statt, in der der Geist von den niederen Rassen wie "Negern" und "Indianern" , so seine Wortwahl, über die höheren Rassen wie die weiße Rasse zum absoluten Geist, dem Göttlichen, voranschreite. Der Mensch der Zukunft habe die körperlichen "Unannehmlichkeiten" nicht mehr. Er besitze keine Rassenmerkmale, kein Geschlecht und im Grunde auch keinen Körper mehr. Diese Konzeption einer geistigen Evolution war für Steiner das Raster, in dem er auf der einen Seite eine Rassengeschichte der Menschheit denken konnte und auf der anderen Seite deren Überwindung in einem geistig gedachten Individuum.

Standard: Eine zusätzliche Seltsamkeit Steiners waren seine Thesen zur Nichtschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg ...

Zander: Auf der einen Seite war er ein nationaler Deutscher und überzeugt, dass Deutschland am Ausbruch des Ersten Weltkrieges unschuldig war. Auf der anderen Seite versuchte er, diesen Krieg in theosophischer Tradition als "übersinnlichen" Prozess zu deuten. Er war der Meinung, es gebe eine Parallelwelt, eine geistige Welt, in der die wichtigen Entscheidungen getroffen würden: über die Kriegsgründe und die Durchführung des Krieges.

Standard: Wenn Sie die wohl unbestritten beeindruckende Leistung Rudolf Steiners aus heutiger Perspektive in den Blick nehmen: Wie konnte es ihm innerhalb in relativ kurzer Zeit gelingen, ein so gigantisches Unternehmen wie die Anthroposophie ins Werk zu setzen?

Zander: Zum Ersten traf Steiner mit seinen Ideen den Nerv der Zeit. Er war sensibel für die Bedürfnisse, Sehnsüchte und Fragen der Menschen und versah seine Ideen mit einem anspruchsvollen philosophischen Programm. Zum Zweiten schaffte er es, seiner Weltanschauung und auch den Praxisfeldern einen organisatorischen Rahmen zu geben. Und zum Dritten gilt für die Anthroposophie, was schon Augustinus in der Antike wusste: Niemand lebt von seinen Schwächen. Die Praxisfelder der Anthroposophie überlebten, weil dort bestimmte Dinge gut sind. Also: Landwirte vergraben nicht nur Mist in Kuhhörnern, sondern verzichten auf Kunstdünger; Mediziner wies Steiner nicht nur an, giftiges Blei zu verwenden, sondern auch, alternatives und universitäres Wissen zu verbinden; und die Waldorfpädagogik besitzt nicht nur ein hoch autoritäres Lehrerbild, sondern auch reformpädagogische Elemente wie musische Erziehung und Koedukation.

Standard: Würden Sie die Anthroposophie als ein bedeutsames Kapitel mitteleuropäischer Geistesgeschichte bewerten?

Zander: Zweifellos. Die Anthroposophie hat zum einen viele Menschen angeregt oder ihnen eine Heimat gegeben. Dabei denke ich an Literaten wie Christian Morgenstern oder Michael Ende, an einen Dirigenten wie Bruno Walter oder einen Künstler wie Joseph Beuys. Und wenn wir auf die theosophische Muttergesellschaft schauen, kämen unter anderem der Dichter William Butler Yeats dazu oder die Pädagogin Maria Montessori oder der Maler Piet Mondrian. Zum anderen wurde die Anthroposophie wichtig, weil sie in den Brüchen des 20. Jahrhunderts einer der Traditionsträger der Esoterik im deutschsprachigen Raum war. Und schließlich bewerkstelligte sie es, ihre Praxisfelder erfolgreich zu etablieren: Waldorf-Pädagogik, anthroposophische Medizin und Landwirtschaft standen in der religiös orientierten Alternativkultur über Jahrzehnte fast allein.

Standard: Sie selbst sind seit langer Zeit intensiv in der Steiner-Forschung tätig, auch auf universitärer Ebene. Vor welchen Aufgaben steht diese Forschung in der nächsten Zukunft?

Zander: Die Etablierung einer "Steiner-Forschung" steht noch an. In der Nachlassverwaltung der Werke Steiners im schweizerischen Dornach wird fleißig Material gesammelt, aber mit nur geringen Verbindungen zur akademischen Forschung. Was wir unter anderem dringend bräuchten, ist Forschung zur Veränderung der Anthroposophie nach Steiners Tod. Wir wissen kaum etwas darüber, wie Steiner selektiv gelesen wurden, welche Schwerpunkte gesetzt werden und wie sich die Anthroposophie wandelt, wenn sie aus dem deutschsprachigen Raum hinaustritt, nicht nur nach Russland, sondern inzwischen auch nach Indien und in afrikanische Länder. Wie verändert sich ein deutsches und in manchen Teilen sehr österreichisches Phänomen, wenn es plötzlich in die weite Welt hinaus strebt? (Adelbert Reif/DER STANDARD, Printausgabe, 15./16. 1. 2011)