Kurz nach Ausrufung des Ausnahmezustands verließ er Tunesien. Der Premier übernahm die Amtsgeschäfte.

Punkt 18:50 Uhr, Freitag, kam die lange erwartete Nachricht. Der tunesische Präsident Zine El Abidine Ben Ali ist zurückgetreten und hat das Land verlassen. Das Staatsfernsehen TV7 unterbrach eigens das Programm, in einer Sondersendung verkündete Premier Mohammed Ghannouchi die Neuigkeit.

Ghannouchi kündigte an, dass er selbst als Übergangspräsident fungieren werde und mit allen politische Kräften in Kontakt treten wolle, um dann Neuwahlen vorzubereiten. Er rief die Tunesier zur Einheit auf. Der Präsident sei "vorübergehend nicht mehr in der Verfassung, das Amt auszuüben".

Der Clan von Ben Alis Frau Leila Ben Ali, geborene Trabelsi, soll ebenfalls das Land verlassen haben. Es hielten sich gestern Gerüchte, ein Flugkapitän habe sich geweigert, sechs Mitglieder der besonders verhassten Familie auszufliegen.

Dem Rücktritt des 74-jährigen Präsidenten war eine knapp einmonatige Protestwelle vorhergegangen. Was als Unmut gegen die Jugendarbeitslosigkeit begann, wuchs sich zu einer Bewegung gegen die Diktatur Ben Ali aus. In der letzten Woche wurden von Polizei und Armee um die 100 Jugendliche bei Niederschlagung von Demonstrationen erschossen.

Nur knapp eine Stunde vor seinem Rücktritt hatte Ben Ali den Ausnahmezustand über das gesamte Land verhängt. Die Armee sperrte daraufhin den Luftraum über Tunesien und besetzte den Flughafen Tunis/Carthage.

Die Gewerkschaft UGTT hatte zuvor die Menschen auf die Straße gerufen und die versprochene neue politische Kultur auf die Probe gestellt. Was als zweistündiger Generalstreik geplant war, wurde zu einer Kundgebung von über zehntausend Menschen, die sich friedlich vor dem Innenministerium auf der Avenue Habib Bourguiba versammelten.

Zweite Unabhängigkeit

Zu Beginn herrschte eine gelöste, fast fröhliche Stimmung. Immer wieder kamen neue Demonstranten, auch ganze Familien tauchten auf. Alle verewigten mit ihren Handykameras den Moment "der zweiten Unabhängigkeit" , wie sie es nennen. Jugendliche schwenkten die rote tunesische Fahne mit Halbmond. Wo ein ausländischer Journalist auftauchte, versammelten sich spontan Dutzende. "Danke, dass ihr uns nicht alleine gelassen habt!" lautet einer der häufigsten Sätze. Einer sagt: "Schreiben Sie, wir Tunesier werden nie wieder gebückt gehen."

Die Demonstranten sangen immer wieder die Nationalhymne und riefen: "Freiheit für Tunesien. Ben Ali raus!" Im Gedenken an die Toten skandierten sie: "Wir vergessen unsere Märtyrer nicht."

Der Aufmarsch war für viele die Gelegenheit, endlich das zu tun, was lange Jahre nicht möglich war: Studenten, Arbeitslose, Büroangestellte, Hausfrauen, Ärzte, Lehrer debattierten. "Glauben Sie wirklich, dass wir uns mit ein paar Centimes weniger für Brot und Eier zufrieden geben?", brach es aus Hedi heraus, der seinen Nachnamen nicht gedruckt sehen wollte. "Nur mit einer erneuten Verstaatlichung können wir den Reichtum dem Volk zurückgeben. Wir wollen alles zurück, was uns geklaut wurde", sagte der 52-Jährige. Die Umstehenden gaben ihm recht.

Gegen 14.30 Uhr löste die Polizei die Versammlung mit Tränengas auf. Zivilbeamte machten mit Knüppeln und Steinen Jagd auf Demonstranten. Überall in der Innenstadt kam es zu teils heftigen Auseinandersetzungen.

23 Jahre Herrschaft

Ben Ali hatte Tunesien 23 Jahre lang mit eiserner Hand regiert. Der ehemalige Sicherheitschef war 1987 an die Macht gekommen, als er gegen den Vater der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba, unblutig putschte. Er erklärte seinen Vorgänger einfach für alterssenil.

Mit einem Fernsehauftritt am Donnerstag hatte Ben Ali versucht, das Ruder noch einmal herumzureißen. Neben Presse- und Versammlungsfreiheit hatte er eine unabhängige Kommission versprochen, die das Land in die Demokratie führen solle. Die Preise für Grundnahrungsmittel würden gesenkt, er habe der Polizei befohlen, nicht mehr zu schießen.

Bereits Donnerstag hatte das Innenministerium Oppositionspolitiker geladen, um mit ihnen über die Möglichkeit einer Übergangsregierung der nationalen Einheit zu diskutieren. Der bekannteste Oppositionelle, der Chef der Fortschrittlich Demokratischen Partei Nejib Chebbi, der 2009 gegen Ben Ali in den Präsidentenwahlen angetreten war, erklärte sich im TV-Sender France24 grundsätzlich zu einem solchen Modell bereit.

Nach der Bekanntgabe des Rücktritts von Ben Ali blieb es in der Hauptstadt Tunis ruhig. Vereinzelt waren Youyous, die Freudenrufen der tunesischen Frauen, zu hören. Die Polizei zeigte starke Präsenz im Stadtzentrum. Immer wieder waren Schüsse zu hören. (Reiner Wandler aus Tunis/DER STANDARD, Printausgabe, 15.1.2011)