So schnell kann es gehen. Es gehörte nicht viel Weitsicht dazu, am Freitagnachmittag zu konstatieren, dass es nicht reichen würde, wenn Tunesiens Präsident seine Regierung entlässt und Parlamentswahlen in sechs Monaten und seinen eigenen Abtritt in drei Jahren verspricht. Aber dass dieser Tag in Tunesien mit seiner Flucht enden würde - das wird einigen Präsidenten in der Nachbarschaft unruhige Nächte bescheren.
Einen Monat sozialen Aufruhrs hat es gebraucht, um der 23-jährigen Herrschaft von Zine El Abidine Ben Ali ein Ende zu setzen. Erst vor etwa zwei Wochen drangen die andauernden Proteste ins Bewusstsein der internationalen Medien. Ben Ali war stets ein Meister darin, den Deckel so draufzuhalten, dass kaum ein Laut aus seinem Land nach außen drang. Diesmal war es anders, die sozialen Forderungen gingen das ganze Land an, sie waren ein Anliegen auch von Leuten auf der "anderen" Seite, das heißt, der kleineren Klienten des Regimes. Der Ruf nach Freiheit kam erst später dazu - sowie jene gewalttätigen Randalierer, die auch nach dem Sturz Ben Alis eine Gefahr für einen friedlichen Übergang bleiben.
Es war also tatsächlich keine Präsidentschaft auf Lebenszeit. Das hatte Ben Ali bei seinem Amtsantritt vor 23 Jahren versprochen - aber dieses Versprechen war ihm lange entfallen, bis Donnerstagnacht. Da war klar geworden, dass es für die Wütenden keine Grenzen mehr gibt, im Badeort Hammamet hatten sie sich an der Villa eines Clanmitglieds Ben Alis vergriffen. Und die Plünderer waren, glaubt man den Berichten, von Polizisten dorthin geschickt worden: "Geht zu den Trabelsis, die haben das Land ausgeraubt."
Die Trabelsis sind die verhasste Familie der Frau Ben Alis. Nicht wenige Tunesier hielten ihren Präsident selbst für krank und senil und fremdgesteuert und für weniger schlimm als andere Figuren im Regime. Er selbst versuchte noch in seiner TV-Rede, weinerlich die Verantwortung auf sein Umfeld abzuschieben: Er sei belogen worden. Auch die Ablösung der Regierung, die er noch initiierte, war ein Versuch, das eigene Amt zu retten. Aber nach einem kurzen Jubel entschied die Straße, dass das alles nicht mehr genug sei.
Es war eine echte Volksrevolution - wobei auffällig ist, dass kaum ein - metaphorisch gesprochen - "Bärtiger" unter den Protestierenden gesehen wurde. Dass es in Tunesien einen islamistischen Untergrund gibt, ist keine Erfindung, und er ist da, auch wenn man ihn nicht sieht.
Aber ebenso hat dieses Land eine junge, moderne, gebildete Mittelschicht, oder besser gesagt: Menschen, die in einem funktionierenden Land die Mittelschicht bilden würden. Ohne Freiheit, aber auch ohne jede wirtschaftliche Perspektive in einem autoritären Staat eingeschlossen, leben sie sehr nahe an Europa und wissen, dass es anders sein könnte und sollte. Für sie beginnt nun eine neue Zeit - wobei vielleicht der Sturz Ben Alis der einfache Teil des Übergangs gewesen sein könnte. Sein Abtritt allein bringt keine Jobs und kein billiges Brot. (Gudrun Harrer /DER STANDARD, Printausgabe, 15.1.2011)