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Dichterlorbeer aus dem Ausverkauf: Henriette (Catrin Striebeck) krönt ihren verzagten Maurice (Lucas Gregorowicz).

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Wien - Die Bohème-Figuren in August Strindbergs Künstlerdrama Rausch (1899) sind gewiss nicht unsere Zeitgenossen. Ihre notorische Überspanntheit lässt an Hysterie denken. Ihr moralischer Glaubenseifer berührt uns im Zeitalter der Kirchenaustritte ungewohnt. Aber sie sind Zerrissene, und als solche haben sie zumindest unser wohlwollendes Mitgefühl verdient.

Regisseur Stefan Pucher hat den Dramatiker Maurice (Lucas Gregorowicz) zu Demonstrationszwecken im Wiener Akademietheater in eine Traumlandschaft gesperrt. Die über zwei Stockwerke reichende Bühne von Barbara Ehnes erinnert mit ihrer weiß lackierten Holztäfelung an das Chorgestühl einer säkularisierten Kirche. Eine Wendeltreppe verbindet die Gefilde der Seligen (erster Stock) mit der Pariser Künstlerkneipe, die Madame Cathérine (Petra Morzé), blond, hoheitsvoll und zur Statue erstarrt, wie die Unterwelt regiert.

Folgen der Ruhmsucht

Nun ist Maurice gerade dabei, die Lebenssphären zu vertauschen: Am Abend wird sein neues Stück uraufgeführt, das ihm den lange entbehrten Ruhm sowie hohe Einkünfte eintragen soll. Lebensgefährtin Jeanne (Dorothee Hartinger) samt Töchterchen Marion (Lilly Marlovics) sind nur lästige Zeugen einer ihn beschämenden Lebensphase. Gregorowicz gibt den Familienvater auf Abruf als zerstreuten, zutiefst unverantwortlichen Hansdampf, der ein Gläschen Schampus merklich höher schätzt als jede Milch der frommen Denkungsart.

Von dieser bigotten Exposition erholt sich Puchers Inszenierung leider kaum mehr. Denn schon spuckte der Beamer Bilder eines in Schnee gehüllten Friedhofes auf die Bühne. Die Trauergäste sind zu Larven verschminkt - es bedarf keiner kriminologischen Fähigkeiten, um zu ahnen, dass Maurices Ausbruch in die vermeintliche Freiheit für mindestens eine Beteiligte letal enden wird: die unschuldigste von allen.

Ab nun illustrieren die ermüdenden Salongeplänkel das Zustandekommen eines Verbrechens, das in den Augen jedes Mündigen eigentlich keines sein kann. Maurice, das schwankende Schilfrohr, begegnet auf der Wendeltreppe der Atelierschönheit Henriette (Catrin Striebeck), die in erlesenen Couture-Modellen die fresslustige Königsmamba markiert. Ihr Geliebter Adolphe (Jörg Ratjen) muss sie als stocksteifer Kümmerling sofort an den Dramatiker-Freund verloren geben. Nicht ohne stille Rührung entsinnt man sich der Frauentausch-Rituale, die in Strindbergs Bohème-Zirkeln gang und gäbe waren.

Es sind Gedankenverrat und eine kurze Schäferstunde, die dem Kind Marion sein Leben gekostet haben sollen. (In Wahrheit starb es an einer nicht näher bezeichneten Krankheit.) Weder die Zerknirschung des Vaters, noch die moralische Examination durch einen wahrhaft dämonischen Abbé (Ignaz Kirchner) vermögen den Sachverhalt vollends zu erhellen: Hat sich Maurice durch sein verantwortungsloses Tun selbst aus dem Paradies der Künstlerschaft ausgeschlossen?

Am merkwürdigsten aber bleibt die Teilnahmslosigkeit der Inszenierung selbst: Pucher blickt derart verliebt auf die eigenen Video-Bilder, dass man ihm sein Interesse an der sexualhygienischen Debattenlage nicht recht abnimmt.

Am ehesten flirrt Rausch wie ein merkwürdig hell ausgeleuchteter, an den Gesichtern und Oberflächen klebender Albtraum vorüber: Rund um den Kindsmord, den Infantizid, entsteht ein Gewebe aus Rechtfertigungen, deren jede bei Bedarf widerrufen werden kann - und auch tatsächlich widerrufen wird. Maurice, die Augen von Schatten umdüstert, wird durch eine nicht näher erläuterte Gnade der Umstände rehabilitiert: Das Knutschen auf der Chaiselongue hat das Kind nicht gemeuchelt! Ein als Sherlock Holmes verkleideter Inspektor (Marcus Kiepe) hatte da bereits eine Instanz des Rechts verkörpert, deren wahren Ursprung man aber - für die Dauer dieser verquasten Inszenierung - im Kopf des Beschuldigten suchen muss.

Eine "Komödie" nannte Strindberg diese ein wenig verschmockte Hervorbringung seines Ingeniums. Am Rätselhaftesten bleibt die erschreckende Tatsache, dass der Tod des Kindes niemanden kratzt. Man muss die Figuren in Rausch nicht verdammen. Man kann ihnen wohlwollen. Aber man hätte schon gerne gewusst, was sie uns heute noch angehen. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printasgabe, 17.1.2011)