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Ben Alis Bilder werden im ganzen Land demontiert.

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Graphik: STANDARD

Tunis - In Tunesien soll eine Regierung der nationalen Einheit das Land wieder zur Ruhe bringen. Die Übergangsregierung soll heute vorgestellt werden. Premier Mohamed Ghannouchi ist im Gespräch mit Oppositionsparteien. Oppositionsführer Najib Chebbi sagte, die Wahl könne binnen sechs oder sieben Monaten unter internationaler Beobachtung stattfinden. Der Chef der größten islamistischen Partei Tunesiens (Ennahda), Rached Ghannouchi, kündigte seine Rückkehr aus dem Londoner Exil an.

Die Armee ging am Sonntag weiter gegen Mitglieder der Leibgarde von Ex-Machthaber Zine el Abidine Ben Ali vor. Der frühere Sicherheitschef und ein Neffe des Ex-Präsidenten wurden festgenommen. Mitglieder des Sicherheitsapparats von Ben Ali werden für die Gewalt und Plünderungen am Wochenende verantwortlich gemacht. In Tunis kam es vor dem Sitz der Oppositionspartei PDP zu einem Schusswechsel. Stabilisierende Kraft ist derzeit die Armee, die mit den überall gebildeten Bürgerwehren zusammenarbeitet.

Ben Alis Sturz könnte auch die Opposition in anderen arabischen Staaten ermutigen. In Gaza, im Jemen und in Ägypten wurde demonstriert.

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"Stopp", ruft ein Soldat auf der Kreuzung zwischen Kathedrale und französischer Botschaft in Tunis. Gewehrläufe gehen hoch, der Offizier zieht seine Pistole. Das Auto kommt endlich zum Stillstand. Die Türen werden aufgerissen, die beiden Insassen, junge Männer in Lederjacken, herausgezerrt, auf den Boden geschmissen, die Mündung im Genick. Diejenigen, die wie Passanten aussahen, entpuppen sich als Zivilpolizisten, die ebenfalls Pistolen und Knüppel ziehen. Einer redet nervös in sein Funkgerät. Schaulustige werden verscheucht, die beiden Männer unsanft und noch immer mit der Pistole im Genick abgeführt. "Präsidentengardisten", meint ein Passant. "Milizen", ein anderer. In einem sind sie sich einig: "Die Armee macht gute Arbeit. In zwei, drei Tagen kehrt hier bestimmt wieder Ruhe ein."

Ein paar Meter weiter steht Mohammed (Name auf Wunsch geändert) mit seinen Kumpels in der Sonne. Es sind alles Verkäufer aus dem Souk in der Altstadt. "Wir machen heute nicht auf. Wir warten noch einen Tag ab" , erklärt der 58-Jährige in gutem Deutsch, das er in den 1980ern in Düsseldorf gelernt hat. "In meinem Stadtteil in Mohammedia hielten vergangene Nacht 500 Jugendliche Wache" , weiß er zu berichten. Sie folgten damit einem Aufruf von Premier Mohammed Ghannouchi und der Gewerkschaft UGTT zur Bildung von Selbstschutzkomitees.

Mindestens einen Toten habe es in der Nacht auf Sonntag dort gegeben. "Es waren gut organisierte Männer, die mit dem Auto in den Stadtteil eindringen wollten. Die Armee schoss" , berichtet Mohammed. Auf die Frage, wen er dahinter vermutet, hat der Mann, der an Touristen Kunsthandwerk verkauft, keinen Zweifel: "Es sind Milizen, die vom Clan von Präsident Zine al-Abidine Ben Ali und der Familie seiner Frau bewaffnet wurden, um Panik zu säen."

"Autoimport, große Handelsketten, Banken, Tunis Air" , zählt Mohammed auf, was alle Tunesier wissen. Das Umfeld von Ben Ali habe sich bei den Privatisierungen der letzten Jahre alles angeeignet, was gute Geschäfte versprach. "Jetzt ist das Spiel aus. Die Milizen plündern und zerstören unter anderem die Supermärkte, damit sie nicht in die Hand des Volkes oder der neuen Regierung fallen" , analysiert Mohammed.

In der Nacht nach der Flucht von Ben Ali wurden zwei Einkaufszentren vor den Toren der Hauptstadt ausgeräumt. Aktionen, die trotz Ausnahmezustands mit Schießbefehl stattfinden konnten. "Die Polizei ist korrupt" , meint Mohammed dazu nur. Am Samstagnachmittag versuchten Milizionäre sogar das Innenministerium auf der Avenue Habib Bourguiba anzugreifen. Armee und Polizei eröffneten das Feuer. Zwei leblose Körper wurden weggeschafft.

Insgesamt war die zweite Nacht nach Ben Alis Abreise nach Saudi-Arabien am Freitag aber ruhiger als die erste. Es waren deutlich weniger Schüsse zu hören. Armeehelikopter überflogen ständig den Großraum Tunis. Der am Sonntag vereidigte Übergangspräsident Fuad Mebazaa ordnete erste größere Säuberungsaktionen im Staatsapparat an. So wurde der Chef der Präsidentengarde, Ali Seriati, festgenommen. Es scheint auch zu Abrechnungen innerhalb des Regimes zu kommen. So wurde bekannt, dass Imed Trablesi, der Lieblingsneffe von Ben Alis Gattin Leila, erstochen wurde. Er war Besitzer einer Möbelhauskette und Immobilienhändler.

Nach Beginn der täglichen Ausgangssperre um 17 Uhr hängen die Tunesier wie gebannt vor Fernseher und Radio. Die Sender bieten Debatten über die Zukunft des Landes, bei denen auch Bürger per Telefon zugeschaltet werden. Eilnachrichten über Gewaltakte unterbrechen die Programme. In Tunis und im südtunesischen Sfax wurde aus gestohlenen Krankenwägen das Feuer auf Passanten eröffnet. Die Meldung vom Tod des Fotografen der Presseagentur EPA, Lucas Mebrouk Dolega, der am Freitag von einer Tränengasgranate getroffen worden war, wurde später dementiert. Sein Zustand sei "kritisch, aber stabil" .

Weg zur Demokratie

Am Wochenende ist die Menschenrechtlerin und Journalistin Sihem Bensedrine aus dem spanischen Exil heimgekehrt. "In zwei bis drei Tagen kehrt bestimmt Ruhe ein. Das Rad kann nicht zurückgedreht werden" , ist sich Bensedrine sicher, sagt die Betreiberin der mittlerweile wieder freigegebenen Seite des Internetradios Kalima, eine der Stimmen der Opposition. Menschen- und Bürgerrechtsgruppen wollten sich zusammenzuschließen, um den Weg zur Demokratie, den Premier Ghannouchi angekündigt habe, zu überwachen.

Auch auf dem Hof eines der wichtigsten Krankenhäuser der Hauptstadt, dem Hôpital Charles Nicolle, sind die unsicheren Nächte, aber auch die Zukunft des Landes das Thema. Während die Polizei niemanden auch nur die Straße überqueren ließ, versuchte in der Nacht vom Freitag auf Samstag eine Gruppe schwarz gekleideter Männer mit Knüppeln und Eisenstangen das Spital zu überfallen. "Zusammen mit Jugendlichen aus den umliegenden Stadtteilen haben wir sie mit den Gestängen der Transfusionsgeräte vertrieben" , berichtet der Universitätsarzt Benslema Riad: "Das hier ist ein Land, in dem mafiöse Strukturen alles kontrolliert haben, die wollten sich einfach rächen und Panik erzeugen."

Wer eine Chance hat, in zwei Monaten zum Präsidenten gewählt zu werden, weiß aber auch hier niemand zu sagen: "Ben Ali hat ganze Arbeit geleistet bei der Unterdrückung der Opposition, er hat eine Wüste hinterlassen" , meint einer der Mediziner. "23 Jahre haben wir nur FFF im Fernsehen gesehen: Frauen, Festivals, Fußball", wirft ein anderer ein.

Weder Militär noch König

Im Augenblick sind sie vor allem auf eines stolz: "Egal wer letztendlich Präsident wird, Tunesien wird das erste Land sein, in dem weder ein Militär noch ein König das Amt des Staatschefs innehat. Was hier geschieht, wird auf die gesamte arabische Welt Auswirkungen haben!" Da ist sich auch Mohammed sicher: "Der nächste, der stürzt, wird Mubarak in Ägypten sein", sagt er. "Und ausgerechnet wir, das kleine Tunesien, haben vorgemacht, wie es geht." (Reiner Wandler aus Tunis/DER STANDARD, Printausgabe, 17.1.2011)