Genf/London/Paris/Oslo - Internationale Tageszeitungen schreiben am Montag über die Lage in Tunesien:

Die "Neue Zürcher Zeitung" (Genf):

"Ben Alis Abgang erfreut gewiss all jene Tunesier, die sich nach Demokratie und einem freieren, weniger vom Staat kontrollierten Leben sehnen. Er ist aber nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für einen politischen Neuanfang. Nach wie vor beherrschen Ben Alis Gefolgsleute und Anhänger die meisten staatlichen Institutionen. Ihr bisheriges Betragen deutet nicht darauf hin, dass sie nach der Flucht ihres Beschützers ihre Machtpositionen freiwillig aufgeben. Der neue Präsident Fouad Mebazza hat zwar ein Bekenntnis zum politischen Pluralismus abgelegt. Aber seine bisherige Karriere weist ihn als Gefolgsmann des gestürzten Präsidenten aus. Dies weckt Zweifel an der Bereitschaft Mebazzas, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen und gänzlich freie Wahlen durchzuführen."

"Independent" (London):

"Tunesien gehört zwar zu den kleinsten Ländern Nordafrikas, doch der Geist der Revolte, der dort entstand, könnte auf das übrige Nordafrika übergreifen. Fast jedes Land ist mit ähnlichen Übeln geplagt: Korrupte und unterdrückende Regimes, die auf die Bedürfnisse der Bürger nicht reagieren, scharfe soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, hohe Nahrungsmittelpreise und eine große jugendliche Bevölkerung mit hoher Arbeitslosigkeit. Die Schlussfolgerung, dass in Nordafrika endlich ein Wandel eingeleitet wurde, oder dass sich die Dinge nun zum Besseren wenden, wäre verfrüht. Es kann noch mehr Gewalt ausbrechen, es kann zu Unruhen und zu Militäraktionen kommen, bevor sich die Lage bessert. Der Westen wird als Beobachter der Szenerie starke Nerven benötigen."

"Libération" (Paris):

"Die Anarchie könnte gut in einer anderen Diktatur enden. Und wenn sich tatsächlich die Demokratie durchsetzen sollte, könnte dies zuallererst den Islamisten zugute kommen, die bei den unteren Schichten der Bevölkerung gut ankommen. Diese Hypothese ist übrigens nicht unwahrscheinlich: Der alte tunesische Integristenführer Rached Ghannuschi, der sich nach London zurückgezogen hatte, kann nun ruhmvoll zurückkommen. In einer freien Wahl kann er erfolgreich seine Bewegung lancieren, die bislang verboten war - die Hizb Ennahda (Partei der Wiedergeburt)."

"Le Figaro" (Paris):

"Man muss die Zurückhaltung des tunesischen Militärs in diesen historischen Tagen anerkennen. Die Versuche der Destabilisierung durch politische Provokateure müssen eingedämmt werden und die Wirtschaft muss in Gang gehalten werden. Langsam organisiert sich die Bevölkerung und nimmt ihr Schicksal in die Hand. Gleichzeitig zeichnet sich der politische Übergang ab. Von der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, die so repräsentativ wie möglich sein sollte, hängt die Organisation allgemeiner Wahlen ab, die bald stattfinden sollten. Angesichts der bisherigen Politik ist Frankreich schlecht beraten, Lehren zu erteilen oder einen Fahrplan zu diktieren. Doch Paris hat schnell reagiert und sich vom entmachteten Präsidenten und seinen Anhängern klar distanziert."

"Aftenposten" (Oslo):

"Der Machtwechsel in Tunesien wirft viele Fragen auf. Am stärksten brennt die Rolle des Militärs unter den Nägeln. Viele kritische Stimmen meinen, dass dort jetzt die wirklichen Machthaber sitzen. Schwierig ist die Lage für die bisherige Opposition, die nach langer harter Unterdrückung schwach organisiert ist und keine sammelnde Führungsfigur hat. Fast alle Akteure in der tunesischen Politik haben ihre Position irgendwie dem geflüchteten Ex-Präsidenten Ben Ali zu verdanken. Die Hoffnung für das Land liegt in einer relativ gut ausgebildeten Bevölkerung und einer zahlenmäßig starken Mittelklasse. Auch bei den Rechten für Frauen trägt diese Gesellschaft moderne Züge. Das gibt Grund zu vorsichtigem Optimismus, wenn die komplizierte Übergangsphase überstanden ist." (APA)