Gegen das Establishment zu agieren sei kein Thema mehr.
Wien - In der zweiten Diskussionsrunde, geleitet von Standard-Kulturressortleiterin Andrea Schurian, erinnerte man sich noch einmal wehmütig an die glorreichen wie auch glorifizierten 70er-Jahre. Erwin Piplits, zusammen mit Ulrike Kaufmann Gründer des Serapionstheaters, erzählte, dass er frustriert nach Kopenhagen ausgewandert war. Dort erhielt er einen Anruf eines Freundes: Bruno Kreisky komme an der Macht, jetzt gebe es neue Perspektiven. Und Piplits kehrte zurück: "Ich würde hier nicht sitzen, wenn es Kreisky nicht gegeben hätte."
Die Architektin Elsa Prochazka ergänzte, dass die Zeit vor Kreisky derart "dumpf" gewesen wäre, dass sie nicht einmal die Kraft zum Auswandern gehabt hätte. Sie erwähnte - mit Verweis auf die erste Diskussionsrunde - die parallelen Strukturen, die unter Kreisky gegründet wurden, um die zeitgenössische Kunst zu fördern, und bedauerte, dass diese in den letzten Jahren zum Feigenblatt degradiert worden wären: Die Kulturpolitik müsse, meinte Prochazka, komplett neu aufgesetzt werden.
Und Emmy Werner, viele Jahre Direktorin des Volkstheaters, geriet ganz aus dem Häuschen, als sie von damals erzählte. Sie hätte sich nicht sehr für Politik interessiert, aber dann kam eben Kreisky: "Er hat ein Fenster aufgemacht. Es war ein Windstoß, der durchs Land ging. Plötzlich war Radikalität erwünscht. Es kam die Lust, etwas zu tun." Es gab eine Aufbruchsstimmung - vor allem unter Frauen: "Für uns war der Kreisky der Kreisky. So eine Vaterfigur." Und sogar "ein Apostel".
Was Emmy Werner darunter verstand, konnte sie nicht mehr erklären. Denn der Essayist Franz Schuh bemerkte spitz, dass es zu "Apostel" keine weibliche Form gebe. Er legte dar, dass Kreisky in erster Linie Politiker gewesen wäre: "Auch sein kulturpolitischer Standpunkt war ein politischer." Einerseits hätte er - wie Karl Kraus - die Kälte der Bürgerlichen gegeißelt, andererseits habe er einen Hannes Androsch als Finanzminister gebraucht, der Modernisierung "mit neokonservativer Kälte" durchsetzte.
Der Philosoph Robert Pfaller sah es ähnlich: Kreiskys Engagement bezüglich der Avantgarde-Ausstellung, die in Washington gezeigt werden sollte (aber nicht zustande kam), sei knallhartes, zweckorientiertes Kalkül gewesen: "Das Bild Österreichs sollte nachhaltig im Ausland verbessert werden. Es ging um das Prestige."
Ganz allgemein gesprochen gebe es zwei Gründe, fortschrittliche Kultur zu fördern: Damit diese auf andere gesellschaftliche Bereiche abfärbe - oder weil in den anderen Feldern traditionelle Politik betrieben werde. Das Wort "Avantgarde" vermied Pfaller. Denn diese gibt es in der Kunst nicht mehr, wie Prochazka erklärte: "Es gibt keine Spitze mehr, der die anderen folgen." Jetzt spiele sich alles gleichzeitig ab.
Theaterregisseurin Nora Schlocker, eindeutig die Jüngste am Podium, pflichtete bei: "Avantgarde ist ein Vokabel, das mir eher fremd ist. Gegen das Establishment zu agieren und zu brüskieren ist kein grundsätzliches Thema mehr. Es gibt eben keine derart strengen Konventionen, die ich sprengen müsste." Und: "Rebellieren ist kein Motor mehr in meiner Generation." Aber - und das stimmte nachdenklich: "Es gibt einen Rückzug ins Private, weil man nicht weiß, wo man einhaken könnte." Alles sei heute in Watte gepackt, es gibt keine offensichtlichen Gegner mehr. Ihre Generation sei daher sehr unpolitisch. Und das mache ihr Angst, sagte Schlocker: "Das ist der Grund, warum ich Theater mache."
Pfaller stimmte zu: "Wir sollen uns nicht der Illusion hingeben, dass wir in einer wahnsinnig liberalen Gesellschaft leben." In den 70er-Jahren entstanden Filme wie Das große Fressen, heute gebe es Prüderie. Man müsse verdammt aufpassen, dass es künftig nicht rückwärts statt vorwärts gehe. (Thomas Trenkler, DER STANDARD - Printausgabe, 18. Jänner 2011)