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Demonstranten gehen gegen die alte Regierungspartei Konstitutionelle Demokratische Sammlungsbewegung (RCD) auf die Straße. Das Brot soll den Hunger unter der Diktatur Ben Alis zeigen.

Foto: AP/dapd/Christophe Ena

  Es geht Schlag auf Schlag. Seit Tunesiens Diktator Zine El Abidine Ben Ali am Freitagabend aus dem Amt gejagt wurde, hat das Land schon den zweiten Übergangspräsidenten und die zweite Regierung. Letztere stürzte am Dienstag in eine tiefe Krise - noch bevor sie ihre Arbeit aufgenommen hat.

Die drei Ministerkanidaten aus den Reihen der Gewerkschaft UGTT - sie sollten zuständig sein für Verkehr und Arbeit, einer ohne Geschäftsbereich - traten noch vor ihrer Vereidigung zurück. Der für den Gesundheitsminister vorgesehene Oppositionelle Mustapha Ben Jaafar könnte es ihnen gleichtun. Ein anderer der drei Oppositionspolitiker in der Regierung könnte sein Amt ebenfalls wieder abgegeben, hieß es aus Gewerkschaftskreisen. Mit ihrem Nein protestierten die designierten Minister gegen die Präsenz herausragender Vertreter des alten Regimes im neuen Kabinett.

Tunesiens Übergangspräsident Foued Mebazaa und der vorläufige Regierungschef Mohammed Ghannouchi reagierten binnen Stunden auf diese Vertrauenskrise: Sie verließen die Partei RCD des aus dem Land geflohenen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Zudem sei Ben Ali selbst aus der Partei ausgeschlossen worden, wurde verlautbart.

Im Industriezentrum Sfax protestierten über 5000 Menschen gegen RCD-Männer in Amt und Würden. Aus Sidi Bouzid, wo die Revolution gegen Ben Ali im Dezember ihren Ausgang genommen hatte, sowie aus Bizert, Kasserine und Regueb wurden ebenfalls Demonstrationen gemeldet. In der Hauptstadt Tunis wurde ein Protestmarsch mit rund 1000 Teilnehmern mit Tränengas aufgelöst.

Die Parolen richten sich gegen die Vertreter der alten Regierungspartei RCD in der Übergangsregierung. Ihr gehören neben Ghannouchi unter anderem die Minister für Inneres, Verteidigung, Finanzen und Äußeres an.

Die RCD, die am Montag aus der Sozialistischen Internationalen ausgeschlossen wurde, soll 2,5 Millionen Mitglieder haben und hat bisher alles im Lande kontrolliert. "RCD raus!" skandierten die Demonstranten, unter denen sich in Tunis auch führende Mitglieder bisher verbotener marxistischer Gruppierungen, der kleinen Grünen Partei und der einst machtvollen islamistischen Bewegung Ennahda befanden.

Vor der Zentrale der UGTT in Tunis versammelten sich am Dienstag früh Hunderte von Gewerkschaftern zu einer Dringlichkeitssitzung des Vorstands. Viele Mitglieder der Einheitsgewerkschaft hatten die Revolte seit Mitte Dezember unterstützt. Jetzt wollen sie die Säuberung des Staates und seiner Institutionen von der RCD.

Es kursieren Flugblätter mit Erklärungen der Gewerkschaft, die zu Zeiten der französischen Herrschaft entstand und die ihre Unabhängigkeit auch in den Jahren der Diktatur zumindest an der Basis und im Mittelbau wahren konnte. "Wir lassen uns die Revolution nicht umdrehen" , wettert ein Mitglied aus der Nordwest-Region Jendouba.

Alle reden von Ghannouchi, der unter Ben Ali bereits Ministerpräsident war. "Zusammen mit dem Innenminister hat Ghannouchi die Flucht Ben Alis und seiner Familie ermöglicht. Er kann nicht in der Regierung bleiben" , heißt es. Es müsse eine "echte Alternative" her: "Eine Regierung ohne RCD, nur aus Unabhängigen und Oppositionellen." Andernfalls sei Wahlbetrug programmiert.

Der Gewerkschaftsspitze fügte sich der Basis und forderte ihre drei Vertreter zum Rücktritt auf. "Wir folgen dem Aufruf unserer Gewerkschaft" , erklärte der designierte und wieder zurückgetretene Minister für Ausbildung und Beschäftigung, Houssine Dimassi.

Die Unzufriedenheit mit der Übergangsregierung ist überall in Tunis zu spüren. "Nazipartei" nennt Sihem Bensedrine die alte Garde. Die aus dem Exil in Spanien zurückgekehrte Menschenrechtlerin eröffnete am Montag symbolisch das Büro ihres bis Freitag verbotenen Internetradios Kalima. "Das ist die alte Regierung Ben Alis, mit ein paar Oppositionellen dekoriert" , wettert sie. "Wir lassen uns keine Angst mehr machen. Zuerst hieß es, Ben Ali oder die Islamisten. Sehen Sie in Tunesien Taliban? Ich nicht!"

Auch die Protagonisten der "Jasminrevolution" sehen die Entwicklung skeptisch. "Ich bin alles andere als zufrieden" , erklärt Lina Ben Mhenni. Die 27-Jährige unterhält ihren Blog atunisiangirl.blogspot.com und schreibt bei globalvoiceson line.org. Auch sie hofft darauf, dass die RCDler aus Regierung und Staat verschwinden.

Der Blogger Slim Amamou, der die letzten Tage unter Ben Ali in Haft verbrachte, ist seit Montag Staatssekretär für Sport und Jugend. Dienstag twitterte Slim404 von der ersten Kabinettssitzung. "Ich werde nicht zurücktreten, um es den anderen gleichzutun. Ich trete zurück, wenn ich das für mich entscheide."  (Reiner Wandler aus Tunis/DER STANDARD, Printausgabe, 19.1.2011)