BEI LING (51) ist Schriftsteller, Essayist und politischer Aktivist. 2000 wurde er aus China ausgewiesen, nachdem Susan Sontag und andere für seine Freilassung eingetreten waren. 2001 gründete er in den USA unter anderem gemeinsam mit Liu Xiaobo in Peking den PEN-Club unabhängiger chinesischer Schriftsteller. Heute lebt Bei vorwiegend in Taiwan, wo er eine Literaturzeitschrift herausgibt.

Foto: Regine Hendrich

 Bei Ling, chinesischer Dissident und Biograf des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, sprach mit Christoph Prantner über die Wirkung des Nobelpreises in China und die Möglichkeit einer zweiten Tiananmen-Bewegung.

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STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch, Liu Xiaobo zu verstehen bedeute, das gegenwärtige China zu verstehen. Was ist der Schlüssel zu beiden?

Bei: Liu Xiaobo hat China in den vergangenen 24 Jahren sehr beeinflusst. Und das moderne China spiegelt sich gewissermaßen in seinem Leben wider. Er wurde von einem Literaturkritiker zu einem Aktivisten der Demokratiebewegung von 1989, einem politischen Dissidenten und nun zu einem Gefangenen des Regimes. Das sagt viel über das heutige China.

STANDARD: Was hat sich geändert in diesen 24 Jahren?

Bei: Die beste Zeit waren die Jahre der Öffnung unter Deng Xiaoping zwischen 1986 und 1989. Dieses Niveau an Freiheit für die Zivilgesellschaft haben wir in China seither nie mehr erreicht. Danach gab es auch enormen Wandel, vor allem wurde der Kapitalismus mit der kommunistischen Diktatur kompatibel gemacht.

STANDARD: Wann haben Sie Liu Xiaobo das letzte Mal gesehen?

Bei: Im Juli 2000 in Peking. Dann wurde ich wegen einer meiner Schriften verhaftet und nach Amerika ausgewiesen. Danach waren wir immer im Kontakt, über Telefon oder E-Mail. Zuletzt haben wir Ende 2007 kommuniziert, 2008 wurde er eingesperrt. Mit seiner Frau habe ich zuletzt vor zwei Monaten gesprochen.

STANDARD: Wie viel weiß Liu Xiaobo über die Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn?

Bei: Er weiß seit dem 9. Oktober davon. Am 10. Oktober besuchte ihn seine Frau und brachte ihm mehr Informationen darüber, er weinte, als er das hörte. Seither ist er von allen Nachrichten abgeschnitten. Man hört, dass ihn sein Bruder noch vor dem chinesischen Neujahr besuchen könnte. Nach dem Friedensnobelpreis ist es jedenfalls wohl viel schwieriger geworden, dass er freikommt. Das Regime dachte, man könne ihn nach ein paar Jahren Haft ins Ausland schicken. Das geht jetzt kaum noch, weil er es nicht machen wird und das Regime ihn dann als einflussreichen Mann auch nicht mehr kontrollieren kann.

STANDARD: Hilft der Nobelpreis der chinesischen Zivilgesellschaft?

Bei: Definitiv. Immer mehr Leute in der Mittelklasse denken, dass sie auch etwas machen können wie Liu Xiaobo und dass das im Ausland nicht ignoriert wird.

STANDARD: Könnte es so etwas wie ein zweites Tiananmen geben?

Bei: Es gibt heute viel Zorn in China, vor allem der sozialen Situation wegen. Mehr als 50Prozent der Menschen leben im Elend. Es gibt immer mehr Proteste, und es wird immer mehr Gewalt geben. Die Regierung hält mit einem dichten Spitzelnetz und der Polizei dagegen, das Militär wird man diesmal nicht mehr brauchen. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.1.2011)