Johanna Riegler lebt und arbeitet als Kultur- und Sozialanthropologin in Wien. In ihrer Forschungsarbeit geht sie den Begriffen Kultur, Identität und Globalisierung theoretisch nach. Sie hat an zahlreichen Forschungsprojekten unter anderem am IFF, ZSI und an der Akademie der Wissenschaften mitgearbeitet.

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Sabine Gruber, Frigga Haug, Stephan Krull (Hg.): "Arbeiten wie noch nie!? Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit". Erschienen im November 2010 im Argument Verlag. ISBN 978-3-86754-308-8.

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"Was machst Du beruflich?" ist eine häufig gestellte Frage und zeigt, laut Johanna Riegler, wie sehr sich Menschen über ihre Arbeit definieren, aber auch wie sehr Arbeit die Gesellschaft strukturiert. Dabei konstatiert die Kultur- und Sozialanthropologin prekäre und unsichere Arbeitsverhältnisse als inzwischen normale. Mit ihrem Beitrag "Die Faulen und die Fleißigen..." in "Arbeiten wie noch nie!?" wurde sie von KollegInnen kritisiert, da sie die Fixierung auf eine Arbeitsgesellschaft in Frage stellt. Im dieStandard.at-Gespräch spricht sie über die am Donnerstag im Parlament beschlossene Gehaltstransparenz, die österreichische Schweigetradition, den Müßiggang und über ein Grundeinkommen, das – Riegler zufolge – nicht zuletzt die geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarktes auflösen würde.

dieStandard.at: In der jüngsten Gleichbehandlungsnovelle wurde unter anderem festgehalten, dass ArbeitnehmerInnen über ihr Gehalt schweigen sollen, wollen sie keine Strafe zahlen. Man kann in Österreich mit Bezug auf Gehälter – im Vergleich etwa zu Schweden – auf eine lange Tradition des Schweigens blicken. Wie bewerten Sie dieses Phänomen als Kulturanthropologin?

Johanna Riegler: Unter dem Motto "Teile und Herrsche" ist das ein effektives Mittel, um ein Tabu zu erzeugen, um Menschen still zu halten. Es gibt zwei Gründe, es nicht zu sagen. Das eine ist, weil ich zu viel verdiene im Vergleich zu anderen. Der andere Grund ist, weil ich wenig verdiene und mich dafür schäme und nicht möchte, dass meine Einstufung als Arbeitskraft so weit unten liegt. Auch Scham ist ein Grund, es für sich zu behalten. Das wird auch gezielt ausgenützt. Das ist natürlich eine Tragödie, wenn diese Argumente greifen. Aber in der Arbeitswelt gibt es einige Tragödien.

dieStandard.at: Wie schätzen Sie die Wirksamkeit der Gleichbehandlungsnovelle mit Bezug auf die Schließung der Lohnschere ein?

Riegler: Es wird vielleicht bei den ArbeitnehmerInnen zu etwas Aufruhr führen. Zumindest wird eine Diskussion in Gang gesetzt. Ob das wirklich zu einer Schließung der Lohnschere und der eklatanten Unterschiede der Bewertungsschienen führt, ist sehr fraglich. Die Problematik ist, dass ganze Berufsgruppen unterbewertet sind. Es verdienen ja alle zu wenig im Vergleich zu männlich dominierten Berufsgruppen, insofern kann Transparenz da auch nicht helfen. Die Diskussion darüber aber ist interessant, weil sie an ein Tabu rührt.

dieStandard.at: SchwedInnen, die hohe Steuerbeiträge in den Wohlfahrtstopf einzahlen, genießen gleichzeitig hohes Ansehen, konträr zu Österreich. Sehen Sie das in Zusammenhang mit dem Schweigen?

Riegler: Das liegt wohl an der Tradition des ausgebauten Sozialstaates und der Transparenz. Man weiß, was man für seine einbezahlten Leistungen bekommt.

dieStandard.at: Im Vergleich zu anderen EU-Ländern hat Österreich aber ein relativ gutes Sozialsystem.

Riegler: Unter Anführungsstrichen ja. Wir sind aber dabei den Sozialstaat abzubauen. In Schweden gibt es auch die Tradition, dass es keine Schande ist, auf den Sozialstaat zurückzugreifen und die Leistungen in Anspruch zu nehmen.

dieStandard.at: Die Beanspruchung des Sozialstaats wird oft an den Pranger gestellt. Arbeit hat sich im Vergleich dazu auf den Thron des Ruhms manövriert. Das war nicht immer so. Wie kam es dazu?

Riegler: Der russische Maler Malewitsch war der Meinung, dass die sozialistische Revolution dazu führen sollte, dass alle die Möglichkeit haben sollen, faul zu sein. Die Arbeit, so argumentierte er, wird zunehmend von Maschinen getragen und der Müßiggang ist keineswegs der Anfang aller Laster. Man kann durch den Müßiggang auch in andere Bereiche vordringen. Aber die gesamte Moderne ist von einem Prozess geprägt, der die Definition des Menschen über die Arbeitskraft forciert – nicht mehr über Besitz und Grund, den Adel oder über die Gottesnähe, sondern über Arbeit, über Arbeitskraft. Man wird also an dem gemessen, was man als Arbeitskraft zum Verkauf anbietet.

Die Menschen versuchen ganz verzweifelt, alles zur Arbeit zu machen: Beziehungsarbeit, Eigenarbeit, Aufwertung der Reproduktionsarbeit – all jene Bereiche, die nicht im bezahlten Arbeitsbereich vorkommen. Es ist nun verpönt zu sagen, ich tue gerne nichts, wirklich nichts, Müßiggang, nachdenken über sich und die Welt. Das ist unmöglich geworden.

dieStandard.at: Der Müßiggang wirft aber kein Geld ab, das zum Überleben notwendig ist.

Riegler: Ja, es ist überhaupt verpönt, alternative Modelle des menschlichen Daseins, wie das Grundeinkommen, anzudenken. Es geht um das Menschenbild, um das Lebensverständnis. Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft und die Arbeitskraft ist das entscheidende Kriterium für alle.

dieStandard.at: Welche Rolle spielte in diesem Prozess hin zur Arbeitsgesellschaft die Moral der Kirche?

Riegler: Der besondere Beitrag der Kirche ist die protestantische Ethik der Arbeit. Es gibt einen Switch: Im Mittelalter war Arbeiten nicht so wertvoll für den Charakter oder die Einschätzung der menschlichen Lebensweise. Entscheidend wurde Arbeit für die Selbstdefinition mit der Moderne und der Industrialisierung. Moralvorstellungen und kulturelle Werte liefen von da an über den Arbeitsprozess. Es heißt ja nicht mehr "Bete und Arbeite" sondern "Arbeite und Arbeite". Die Kirche hat da sehr wohl einen Beitrag geleistet, hat damit aber nicht begonnen. Es ist eher eine Anpassung an die sozioökonomische Entwicklung.

dieStandard.at: Welche Rolle spielten dabei dann Kapitalismus und Marxismus?

Riegler: Die beiden großen ideologischen Pole des 19. Jahrhunderts beruhen auf dem Arbeitsparadigma. Das macht es auch so schwierig, mit linken, kritischen Kräften über Arbeit zu diskutieren. Alle gehen davon aus, dass die Arbeit aller Menschen gebraucht wird. Das stimmt nicht. Das ist historisch nie so gewesen und auch in anderen Kulturen überhaupt nicht der Fall. Außerdem wird propagiert, dass wir ein angeborenes Bedürfnis nach Arbeit haben. Tut mir leid, das ist nicht nachzuweisen.

dieStandard.at: Man kann es aber auch als Mangel empfinden, keine Arbeit zu haben.

Riegler: Wir haben ein Einbrechen des Arbeitsmarktes und gleichzeitig ein Aufblühen der Arbeitsethik wie nie zuvor. Das verhindert Ideen zu neuen Modellen der Vergesellschaftung. Die Arbeit ist momentan der Zirkel, um den sich alles dreht. Man hat die Ausbildung, um dann fit für den Job zu sein. Man ist in Pension, weil man einen Job hatte. Die Ausbildung soll deshalb gut sein, damit man einen guten Job kriegt. Man sollte aber die Überlegung anstellen, eine hohe Allgemeinbildung, ein hohes Reflexionsniveau einer Gesellschaft – ohne ökonomische Verwertung – zu erreichen. Man treibt die Studierenden schnell durch die Uni – und wohin? In das AMS. Es gibt nur eine Branche die boomt: Das Betreuen und Aktivieren der Arbeitslosen – und die werden gequält.

Es gibt bestimmt befriedigende Zustände im Bereich der Arbeit, das will ich nicht leugnen. Aber das ist etwas anderes als dieser Arbeitszwang und diese Erpressbarkeit durch Arbeit. Man hat im Prinzip ja keine Wahl. Man gilt als asozial, wenn man dieses Paradigma infrage stellt.

dieStandard.at: Vergesellschaftung durch Arbeit bietet also eine Menge Konfliktlinien. Wie können diese aufgelöst werden?

Riegler: Für mich als Kulturanthropologin geht es in erster Linie darum, die Arbeit als Wert vom Thron zu stürzen. Beschäftigung als Wert an sich zu begreifen, ist meines Erachtens nicht richtig. Das führt genau zu dem, wo wir jetzt sind. Nicht Normal-Arbeitsverhältnisse, sondern unsichere, prekäre Arbeitsverhältnisse sind die Norm geworden.

dieStandard.at: Wie könnte das Arbeitsparadigma aufgelöst werden?

Riegler: Arbeit muss vom Einkommen entkoppelt werden. Also eine Entkoppelung aus diesem Arbeitsmarkt und ein Grundeinkommen für alle. Das ist meines Erachtens die einzige Lösung. Ich bin eine Vertreterin des Müßiggangs. Nur dann kann ich mir aussuchen, welche Arbeit ich mache und zu welchen Bedingungen. Die ganze Erpressbarkeit über die bezahlte Arbeit fällt dann weg und erst dann ist Freiheit gegeben.

dieStandard.at: Ist ein Grundeinkommen finanzierbar?

Riegler: Wir leben im Überfluss, daher ist es bezahlbar. Volkswirte haben das berechnet. Die Mindestsicherung zum Beispiel ist eine Katastrophe. Sie hat nur eine weitere Anbindung von noch mehr Menschen an dieses System des Arbeitsmarktes gebracht. Die Mindestsicherung ist eine weitere Verstärkung des Drucks Richtung Arbeitsmarkt. Der Sozialstaat hütet diese Hülle der Arbeitsordnung, obwohl er keine Basis mehr dafür hat. Daher diese Pseudo-Aktivierungen und Pseudo-Beschäftigungen, das hat auch das Entstehen von Billigarbeitsplätzen zur Folge. Dadurch wird eine monetäre Entwertung der Arbeit massenweise vollzogen. Das Grundeinkommen bedeutet auch die Freiheit zu tun, was ich will, oder was ich lassen will.

dieStandard.at: Die Loslösung vom Arbeitsparadigma scheint aber weit entfernt. Der Trend geht eher in Richtung "Leistung muss sich wieder lohnen".

Riegler: Wir leben in gewisser Weise in Zusammenhängen, wo eine Psychologie des Mangels vorherrscht. Da passt dieser Spruch "Leistung muss sich lohnen" auch dazu. Durch die Schilderung eines Mangels, entstehen Ängste, Gier oder Neid. Tatsächlich haben wir aber einen unglaublichen Überfluss. Eigentlich wäre das Passende dazu eine Psychologie des Überflusses. Das Grundeinkommen ist genau so ein luxuriöses Gut. Zu sagen, ich definiere BürgerInnen nicht über ihre Leistung, weil sie schwanken und sich ändern kann. Menschen nach ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft zu beurteilen, ist auch ethisch bedenklich.

dieStandard.at: Wenn man die luxuriöse Variante des Grundeinkommens auf das Verhältnis von Produktion und Reproduktion überträgt – welche Auswirkungen sehen Sie für das Differenzierungskriterium Geschlecht?

Riegler: Das Arbeitsparadigma ist ganz massiv von der geschlechtsspezifischen Struktur durchzogen. Frauen am Arbeitsmarkt haben einen ganz bestimmten Minderwert, ausgehend von der Tatsache, dass es Zeiten gab, in denen Frauen ausschließlich für die Reproduktion zuständig gemacht wurden. Heute stellt sich dieses Problem zwar nach wie vor, aber nicht mehr in dem Ausmaß. Ein Zusammenbruch der Arbeitsmoral, ein Zusammenbruch des Arbeitsparadigmas würde automatisch zu einer Veränderung in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung führen. Das Grundeinkommen wäre dann völlig gleich für Mann und Frau. Ich glaube nicht, dass sich Frauen dann freiwillig auf die Reproduktion konzentrieren würden. Reproduktion würde ebenso einen anderen Status erhalten. Das Grundeinkommen wäre eine Voraussetzung dafür, eine geschlechtsspezifisch festgefahrene Struktur aufzubrechen. Da gibt es dann keine Lohnschere in dem Sinn, zugleich würden wir alle wissen, wie viel wir verdienen – auch die Schweigekultur würde sich verflüchtigen.

dieStandard.at: Sind Ihre Forderungen für die Gegenwart zu radikal?

Riegler: Ja, das klingt alles furchtbar radikal. Ist es aber nicht. Es gibt auch TheoretikerInnen die sagen, man muss bestraft werden, wenn man mehr arbeitet als notwendig. Es gab auch Kulturen, in denen es verpönt war mehr zu tun, mehr zu produzieren, mehr zu fangen oder mehr zu ernten als für das Überleben notwendig ist. Es wurde auch religiös sanktioniert, wenn man von der Natur mehr genommen hat, als man tatsächlich braucht. Es war also nicht immer so, dass die Fleißigen die Guten sind. Diese Tugend kennen wir seit dem 18. Jahrhundert. Ein Überbleibsel ist der Sonntag, der "Tag des Herren", also ein Tag, an dem nicht gearbeitet wird. Aber die Vorstellung, dass die völlige Verausgabung in der Arbeit nicht das Non-Plus-Ultra ist, wollen viele nicht begreifen. (Sandra Ernst Kaiser, dieStandard.at 20.1.2011)