Zu den üblichen Befürchtungen, Missverständnissen und Aggressionen, die der Begriff Gesamtschule in Österreich auslöst, ist neuerdings die Behauptung getreten, eine Gesamtschulreform würde einen Massenexodus in das Privatschulwesen bewirken. Als warnendes Exempel wird dabei auf England verwiesen.

So fragt etwa als Reaktion auf meinen Kommentar vom 11.1. ebenfalls hier im Standard am 14.1. ein anscheinend zutiefst frustrierter AHS-Lehrer sich bzw. mich: "Was wird Professor Gruber seinen Lesern erklären, wenn auch in Österreich (wie in England, KHG) durch die Einführung der einheitlichen Schule die Privatschulen bald schon blühen und gedeihen?"

Nun, einmal davon abgesehen dass die englische Gesamtschulreform kläglich misslungen ist, beehrt sich Professor Gruber, seinen geschätzten Leserinnen und Lesern mitzuteilen, dass es den österreichischen Privatschulen auch jetzt schon prächtig geht: In England besuchen etwa 7 Prozent der Sekundarschüler Privatschulen, in Österreich hingegen 15 Prozent.

Ärgerlicher und typisch für den österreichischen Stil des Schulreformdiskurses ist jedoch folgende Unterstellung: "Wenn Karl Heinz Gruber auf ‚großangelegte Studien' verweist, die die Gesamtschule als einzig seligmachende Errungenschaft preisen..." Ich habe nichts dergleichen geschrieben. Ich habe lediglich auf großangelegte Studien verwiesen, welche die Unzuverlässigkeit verschiedener Ausleseverfahren am Ende der Grundschule belegen.

Es würde mir nicht im Traum einfallen, "die Gesamtschule als einzig seligmachende Errungenschaft zu preisen" , nicht bloß deswegen weil ich seit der Seligsprechung von Kaiser Karl große Probleme mit der Seligkeit habe, sondern weil ich es nach vierzigjähriger wissenschaftlicher Beschäftigung mit unterschiedlichen nationalen Varianten von Gesamtschulen damit halte wie Winston Churchill mit der Demokratie: nicht perfekt, aber besser als alle Alternativen.

Churchill war übrigens Schüler von Harrow, einer der prominentesten englischen Privatschulen. In seiner Autobiographie schildert er seine Aufnahmsprüfung (hier leicht gekürzt, KHG): "Zuerst schrieb ich auf das Blatt meinen Namen. Dann schrieb ich Frage 1. Nach reiflicher Überlegung setzte ich die (1) in Klammern. Sodann fiel mir nichts mehr ein, was relevant oder richtig gewesen wäre. Ganz beiläufig stellten sich auf meinem Blatt ein Tintenklecks und ein paar Schmutzflecken ein. Ich starrte zwei Stunden lang auf dieses traurige Schauspiel...Schließlich sammelte ein gnädiger Helfer mein Papier ein....Auf der Basis dieses bescheidenen Anzeichens von Gelehrsamkeit befand mich der Direktor für würdig in Harrow aufgenommen zu werden."

Churchills feine Ironie trifft den grundlegenden Mangel von Ausleseverfahren wie die nebulösen "positiven Bildungsempfehlungen" , welche die ÖVP einführen möchte: Sie sind anfällig für eine sozial verzerrte Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit der Kinder. Unterschichtkinder werden dabei häufig benachteiligt, Mittel- und Oberschichtkinder begünstigt. Churchill war Enkel der Herzogs von Marlborough.

Gesamtschule Sacre Coeur?

In Österreich wird die große Mehrheit der Privatschulen von der katholischen Kirche betrieben, massivst subventioniert von den österreichischen Steuerzahlern (auch von jenen 80.000, die im Vorjahr die Kirche verlassen haben). Professor Paul Zulehner wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass sich die krisengebeutelte katholische Kirche bei grundlegenden gesellschaftlichen Problemen neu positionieren muss. Was wäre, wenn sich die Amtskirche die bildungspolitische Variante der Gretchenfrage stellen würde: Wie hältst Du es mit der Gesamtschule?

Man muss kein Kirchenhistoriker oder Pastoraltheologe sein, um zur Überzeugung zu kommen, dass sich die egalitäre Gesamtschulidee sehr gut mit der egalitären Botschaft Christi verträgt. So gibt es etwa in England, Frankreich und Italien katholische Gesamtschulen. Warum sollen die Unterstufen des Sacre Coeur und des Stiftsgymnasiums Kremsmünster nicht auch vorbildliche "echte" Gesamtschulen werden? (Karl Heinz Gruber, DER STANDARD, Printausgabe, 21.1.2011)