Auf den ersten Blick sind die derzeitigen Probleme in Deutschland, Österreich und anderen EU-Staaten gleich: Es geht um die Frage, wie können die sozialen Sicherungssysteme so gestaltet werden, dass sie auch in Zukunft noch tragfähig sind. Denn überall steigt der Anteil alter Menschen an der Bevölkerung rasch, während die Geburtenrate sinkt. Dazu kommt, dass auch die Arbeitslosigkeit in den meisten Staaten zunimmt und damit der Anteil der abhängig Beschäftigten, auf deren Beiträge das Sozialsystem angewiesen ist, abnimmt.

Deshalb wird auch in den meisten EU-Staaten gerade in diesem Bereich über Reformen diskutiert. Während in Österreich und Frankreich die Pensionsreform im Mittelpunkt steht, versucht die britische Regierung ihre Gesundheitsreform durchzubringen.

In Deutschland steht derzeit praktisch der gesamte Sozialstaat auf dem Prüfstand, wo das Niveau - noch - höher ist als in Österreich. Deutschland ist im europäischen Vergleich aber ein Sonderfall. Der Hauptgrund für die derzeitigen Schwierigkeiten liegt darin, dass sich Deutschland mit der Wiedervereinigung schlicht übernommen hat. Die Wiedervereinigung kostet den Staat jährlich inklusive Zinsen rund 100 Milliarden Euro, also etwa 5,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die Zinsbelastung des Bundes ist binnen zwölf Jahren von 13 auf 23 Prozent gestiegen.

Dazu kommt, dass zwanzig Millionen Landsleute in die Sozialversicherungen übernommen wurden, ohne am System etwas zu ändern. Die Strukturen des Sozialstaats, der schon in Westdeutschland an seine Grenzen gekommen war, wurden einfach auf Ostdeutschland übertragen. Außerdem hat Kanzler Helmut Kohl (CDU) auch die Österreich gepflegte Vorgehensweise praktiziert, ältere Arbeitnehmer zulasten der Sozialkassen in die Frühpension zu schicken. All dies rächt sich jetzt.

Inzwischen haben die neuen Bundesbürger ihren Nachholbedarf an neuen Autos oder Kühlschränken gedeckt und die Binnenkonjunktur - auch als Folge der hohen Arbeitslosigkeit - ist eingebrochen. Deutschland, das durch die Vereinigung mit sich selbst beschäftigt war, muss nun auch erkennen, dass sich die Welt rundherum geändert hat. Infolge der Globalisierung haben sich die hohen Lohnnebenkosten in Deutschland zu einem Standortnachteil entwickelt, der zu Betriebsabsiedelungen führen. Statt Wachstumsmotor zu sein, findet sich Deutschland am Ende des europäischen Geleitzuges wieder.

Der Leidensdruck, etwas zu ändern, ist angesichts täglich neuer Horrormeldungen über Steuerausfälle, leerer Krankenkassen, Beitragserhöhungen und Arbeitslosenhöchstständen, gegeben. Bundeskanzler Gerhard Schröder und Oppositionsführerin Angela Merkel (CDU) verkünden gleichermaßen, dass Deutschland jahrelang über seine Verhältnisse gelebt habe. Sogar Gewerkschaftschef Michael Sommer, der einen Gegenentwurf zur Agenda 2010 des Kanzlers vorlegte, stimmte dem zu, indem er erklärte: "Auch wir sind nicht der Auffassung, dass alles so bleiben kann, wie es ist."

Auch in der Bevölkerung ist die Bereitschaft zu Reformen da, wie Umfragen zeigen. So sind sogar 47 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder der Meinung, dass die von Schröder vorgeschlagenen Reformen genau richtig seien - trotz der Ablehnung durch die Gewerkschaftsspitzen. Es zeigt sich auch, dass sich Überzeugungsarbeit lohnt, wie dies Schröder in seinen SPD-Regionalkonferenzen, bei denen er sich der Basis stellt, tut.

Es gibt - im Gegensatz zu Österreich - eine breite Diskussion über das Wie der Reformen, nicht um das Ob. Die Gewerkschafter haben sich mit ihrem Vorschlag in die Debatte eingeschaltet. Die Erkenntnis ist da, dass sich die Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft den hausgemachten Problemen stellen müssen. Und dass dieser nationale Kraftakt in der größten Volkswirtschaft Europas gelingt, muss im Interesse aller Staaten auf diesem Kontinent liegen. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.5.2003)