Wien - Mit 38 ist man eben noch gut bei Fuß. Da kann man ohne weiteres ohne Rast auf "Winterreise" gehen. Ruhelos von Station zu Station. Nicht als nobel gewandter Liederflaneur. Eher als beinah bizarrer Freak. Als einer, aus dem Franz Schuberts 24 Varianten von Liebesleid und Weltschmerz herausbrechen. Als hellsichtige Wehklagen nach ahnungsvoller Narrenweise - wie in Bergs "Wozzeck" oder Mussorgskis "Boris".
Stück für Stück dieser geläufigen musikalischen Sprichwortsammlung wird in ein geschrienes, manchmal auch nur geflüstertes Seelenrätsel verwandelt und gleichzeitig auch wieder aufgehellt durch einen Tenor, dessen stets schmerzlich erregte Schönheit auch bis in die tieferen Lagen intakt bleibt.
Schmerz und Erregung machen bei Ian Bostridge vor Kehle, Brust und Kopf, oder was sonst noch zum Singen nötig scheint, nicht halt. Sie fahren ihm in die Glieder. Werfen den schmächtigen Herrn bald rücklings ans Klavier, lassen ihn auffahren und zusammenzucken, als wäre er von Wilhelm Müllers wohl gereimtem Elend gerade selbst betroffen.
Wenn Bostridge Schubert singt, ereignet sich die magische Beschwörung der Wesenheit von Text und Musik, erfolgt deren alchemistische Mixtur zur Quintessenz der Interpretationskunst. Immerhin hat sich Bostridge mit Zauberei ja auch wissenschaftlich beschäftigt. Sein Geschichtestudium in Oxford beschloss er mit einer auch in Buchform erschienenen Dissertation über "Hexerei und ihre Veränderungen in England zwischen 1650 und 1750". Möglicherweise macht er sich die Einsichten über die Praxis des Zauberns nun in seiner Sängerlaufbahn selbst zunutze.
Leif Ove Andsnes, sein aus Norwegen stammender Partner, ist mehr als nur ein pianistischer Stichwortgeber. Er sitzt am Klavier wie der junge Edvard Grieg und liefert für Bostridges evozierte Liedwesen stets die passende Notenmaterie. Vielleicht wäre diese, bei aller gebotener Hochachtung vor Steinway & Sons, einem Bösendorfer in noch satteren Farben entstiegen. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.5.2003)