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Saskia Sassen (62), Soziologin und Wirtschaftswissenschafterin, befasst sich insbesondere mit Globalisierung und Migration. Sie hat einen Lehrstuhl an der Columbia University in New York und ist Gastprofessorin an der London School of Economics.

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Im klassischen Einwanderungsland haben eine "schwatzende Klasse" und "Populismus" den Diskurs übernommen, sagt sie zu Frank Herrmann.

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STANDARD: Wie sind die USA zu einem solchen Anziehungspunkt für Migranten geworden?

Sassen: Das war ein Land, das von Grund auf neu gebaut werden musste. Eisenbahnen, Straßen, Häuser, alles. Es gab nicht das Erbe Europas. Und als die heiße Bauphase beendet war, um den Ersten Weltkrieg herum, hat sich auch Amerika für eine Weile der Immigration verschlossen. Das wird oft vergessen. Man denkt immer, die Vereinigten Staaten hatten diesen ständigen Einwandererfluss, die Tore standen immer weit offen. Tatsächlich gab es Phasen, wo dies nicht der Fall war, etwa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.

STANDARD: Woran lag das?

Sassen: Da kam vieles zusammen. Der brutale Kapitalismus der Räuberbarone hatte Massenarbeitslosigkeit zur Folge. Es bedeutete, dass man keine Migranten mehr wollte. Das änderte sich erst wieder nach 1945. Da brauchten die USA wieder Arbeitskräfte und schlossen Verträge mit Mexiko. Es gab also immer ein Auf und Ab.

STANDARD: Wie ist die Lage heute?

Sassen: Menschen, die aus dem lateinamerikanischen Hinterhof kamen, werden aktiv verfolgt. Zehntausende Latinos sitzen im Gefängnis, weil sie nicht nachweisen können, dass sie sich rechtmäßig im Land aufhalten. Viele hatten noch keine Anhörung, keinen Zugang zu einem Anwalt. Ergo konnten sie noch keinem Richter beweisen, dass sie legale US-Bewohner sind.

Im Übrigen finde ich, wenn Gesetze schon den illegalen Status eines Migranten kriminalisieren wie in Arizona, dann ist das etwas sehr Gefährliches. Vergessen Sie nicht den Patriot Act, durchgesetzt von Bush und Cheney. Danach ist die Regierung befugt, in einer Ausnahmesituation nationales Recht zu brechen, im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus. Sie kann illegale Einwanderer, die sie für gefährlich hält, deportieren, ohne sie auch nur anhören zu müssen. Dies hat, zusammen mit lokalen Änderungen, das Rechtsklima erheblich verändert. Nächtliche Razzien, so etwas verstößt gegen das Gesetz. Der Patriot Act aber bietet die Handhabe dafür, auch wenn diese Praxis jetzt aufgehört hat.

STANDARD: Dieses veränderte Klima, ist das etwas Zyklisches? Bessert es sich, wenn die Wirtschaft wieder in Schwung kommt?

Sassen: Es ist nicht das erste Mal, dass eine akute Anti-Einwanderer-Stimmung herrscht. Aber nur zyklisch ist das nicht. Es gibt heute eine hässliche Art, über Immigranten zu reden, die lange nicht akzeptabel war.

STANDARD: Warum ist das so?

Sassen: Viele Amerikaner sind zutiefst verunsichert. Zum ersten Mal haben die Söhne und Töchter ein niedrigeres Einkommen und schlechtere Jobchancen als ihre Eltern. Dabei dachte man immer, der nächsten Generation würde es stets ein wenig besser gehen. Jetzt zieht schmerzhafte Ernüchterung ein. Und diejenigen, die sich auf dem absteigenden Ast sehen, teilen gern aus gegen jene, die in ihrer Reichweite sind. Die Wall Street können sie nicht erreichen. Wohl aber die Immigranten.

STANDARD: Dabei stammt doch jeder Amerikaner in letzter Instanz von einem Immigranten ab. Woher kommt dann diese Wutwelle?

Sassen: Wut gab es schon immer, und immer richtet sie sich gegen die neueste Gruppe von Einwanderern. Was gab es für eine Aufregung um John F. Kennedy. Wie kann ein Katholik ins Weiße Haus ziehen? Damals waren die Iren noch die Prügelknaben. Später wurden sie in dieser Rolle von Menschen aus der Karibik abgelöst. Dann waren die Mexikaner an der Reihe. Das Komische ist, wenn man die Leute fragt, was sie von ihren aus Mexiko stammenden Nachbarn halten, dann bekommt man zur Antwort: Oh, die sind wunderbar. Aber sobald es um die abstrakte Gruppe geht, nicht um konkrete Menschen, hört man die Klischees: Ach, die zahlen keine Steuern, sie nehmen uns Jobs weg, sie sprechen nicht unsere Sprache. Hinzu kommt das Gerede von Leuten, die ich die schwatzende Klasse nenne.

STANDARD: Wen meinen Sie?

Sassen: Denken Sie an Sarah Palin. Ihr Name steht fast täglich in den Schlagzeilen. Diese schwatzende Klasse ist wirklich verantwortungslos geworden, maßlos in ihrer Nabelschau. Nehmen Sie die Kritik an Barack Obama. Man wirft ihm vor, dass er die Ausnahmerolle, das Besondere Amerikas ("American Exceptionalism" ) nicht würdigt. Können Sie sich einen Politiker in Europa vorstellen, der immerzu sagt, sagen muss, wir sind das beste Land dieser Welt?

STANDARD: Dennoch, Amerika als Magnet, das ist im Grunde seine Geschichte. Was ist davon übrig?

Sassen: Amerika verliert diesbezüglich an Rang. Ich merke das, wenn ich an der London School of Economics mit Studenten rede. Früher wären die meisten am liebsten nach New York gegangen. Heute wollen sie nach London. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.1.2011)