"Migration ist eine essenzielle Ressource der europäischen Großstadt."

Erol Yildiz (50) ist selbst schon viel emigriert. Er wurde in Samsun in der Türkei geboren, zog mit 18 Jahren nach Köln und studierte dort Soziologie und Pädagogik. Seit 2008 lebt Yildiz nun in Klagenfurt. Er ist Professor für interkulturelle Bildung und Migrationsforschung an der Universität Klagenfurt.

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Gemeinsam mit Birgit Mattausch gab er 2008 das Buch "Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource" heraus. Birkhäuser Verlag, Edition Bauwelt Fundamente, € 19,90.

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Mit Erol Yildiz sprach Wojciech Czaja (Mitarbeit: Maik Novotny).

Standard: Im Alter von 18 haben Sie die Türkei verlassen und sind nach Deutschland ausgewandert. Ihr erster Eindruck?

Yildiz: Ja, ich bin 1978 nach Köln gekommen. Ich weiß noch, dass man damals nirgends draußen sitzen konnte. Es gab in Köln kein einziges Straßencafé. Heute ist das ganz anders. An jedem Straßeneck gibt es einen Schanigarten. Diese Kultur des Draußensitzens ist das Produkt einer Migration aus südlichen Ländern.

Standard: In Ihrem Buch "Urban Recycling" bezeichnen Sie Migration als eine der wichtigsten Ressourcen der Großstadt. Das heißt?

Yildiz: Die europäische Großstadt, wie wir sie heute kennen, ist erst mit der Industrialisierung entstanden. In manchen Fällen haben sich die Bewohnerzahlen durch den Zuzug im 19. Jahrhundert sogar mehr als verzehnfacht. Die meisten Arbeiter kamen von außerhalb. Anders gesagt: Erst durch diese Bewegung von A nach B ist das System Stadt überhaupt möglich geworden. Ein Gebiet wie etwa der Ruhrpott wäre ohne Migration bis heute nur eine Ansammlung von Dörfern.

Standard: Welche Rolle nimmt die Zuwanderung in der Stadtentwicklung heute ein?

Yildiz: In den Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts sind viele Industrien in ländliche Gebiete abgewandert. Das hat vor allem mit den Kosten zu tun. Durch diese Entindustrialisierung sind viele Stadtviertel verwaist. Die Leute waren von einem Tag auf den anderen arbeitslos. Also haben sie sich selbstständig gemacht und begonnen, Geschäfte und Restaurants zu eröffnen. Auf diese Weise haben sie dazu beigetragen, dass die kaputte, leerstehende und ungenutzte Stadtstruktur wiederbelebt und aufgewertet wird. Ich bezeichne das in meinem Buch auch als "Urban Recycling".

Standard: Warum sind es ausgerechnet die Migranten, die sich selbstständig machen?

Yildiz: Allein schon durch sprachliche Barrieren und durch die Diskriminierung am Arbeitsmarkt haben sie wenig Chancen auf Anstellung. Es bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als sich selbstständig zu machen. Das zeigt sich auch in der Statistik: Die Selbstständigenquote ist deutlich höher als unter Inländern. Jedenfalls ist dieses Stadtrecycling durch Migranten Motor für die meisten Metropolen auf der Welt.

Standard: Beispiele?

Yildiz: Eines der ältesten Beispiele ist Amsterdam. Nur durch eine 500 Jahre lang anhaltende Zuwanderung ist es gelungen, dass Amsterdam so weltbekannt und weltoffen geworden ist. Ohne Migration wäre diese Stadt undenkbar. Ein anderes Beispiel ist Oslo: Im Stadtviertel Grönland haben sich viele Migranten angesiedelt und im Laufe der Zeit viele kleine Geschäfte und Imbisse eröffnet. Diese Infrastruktur prägt bis heute das neue Gesicht Grönlands. Nachdem die Stadtregierung erkannt hat, dass die kleinen Shops es schwer haben, sich gegen Supermärkte und Shoppingcenter durchzusetzen, hat sie beschlossen, sie zu subventionieren und so die Existenz zu sichern. Das Programm ist einzigartig auf der Welt.

Standard: Ein überaus positives Beispiel in Ihrem Buch ist Toronto. Den Stadtpolitikern ist es gelungen, aus einer einst langweiligen Stadt eine quirlige Ethno-Metropole zu machen. Das Rezept?

Yildiz: Es gibt in Kanada ein ganz anderes Bewusstsein in Bezug auf Migration als etwa in Europa. Kanada ist ein deklariertes Migrationsland. Das trifft im Besonderen auf Toronto zu. 1998 hat die Stadtregierung beschlossen, das Motto "Diversity Our Strength", also "Vielfalt, unsere Stärke", zum offiziellen Vision Statement zu erheben. Das schlägt sich auch in der Stadtplanung nieder. Es gibt eine Vielzahl an ethnischen Clustern wie etwa Greek Town, Little Italy und Chinatown, sowie mehrsprachige Straßenschilder. Migration wird in Toronto also nicht als Problem, sondern tatsächlich als Ressource betrachtet.

Standard: Sie zitieren auch ein Erfolgsmodell aus Köln, bei dem es gelungen ist, eine heruntergekommene Straße im Westen der Stadt wieder aufzupäppeln.

Yildiz: Ja. Ende der Siebzigerjahre wurden in Köln-Mülheim eine große Kabelfabrik abgesiedelt. Das war auch das Ende einer bunten und lebendigen Ära. Die meisten sind daraufhin weggezogen, der Leerstand hat zugenommen, die Gegend ist zusehends verfallen. Nur die Türken sind geblieben. Im Laufe vieler Jahre ist es ihnen gelungen, den Stadtteil wieder zu beleben. Die Keupstraße sieht heute völlig anders aus als noch vor zehn Jahren. In jedem Haus gibt es mindestens ein Geschäft oder Restaurant. Inzwischen haben sich auch Medienfirmen und Creative Industries angesiedelt.

Standard: Ist das Gentrification?

Yildiz: Nein. Denn Gentrification ist die künstliche Aufwertung eines Stadtviertels durch Außenstehende und Investoren. In diesem Fall kam die Kraft zur Neubelebung von den Bewohnern selbst.

Standard: Welche Auswirkungen hat diese Wiederbelebung auf die Stadtplanung?

Yildiz: Selbstverständlich ist eine quirlige Einkaufsstraße etwas anderes als ein verwahrlostes Wohnquartier. Daher mangelt es vorerst noch an ausreichenden Parkplätzen, Sitzmöglichkeiten und Mülltonnen. Das muss die Stadtplanung noch nachholen.

Standard: Und auf die Architektur?

Yildiz: Der architektonische Stil, der hier Einzug gehalten hat, ist eine Art orientalische Inszenierung. So etwas Kitschiges, Tausendundeine-Nacht-haftes findet man nicht einmal in der Türkei! Ich finde das faszinierend. Abgesehen davon findet das Leben hauptsächlich auf der Straße statt. Man nützt den öffentlichen Raum, man sitzt draußen und trinkt Tee. In einigen alternativen Städteführern wird Mülheim sogar als Geheimtipp angeführt. Viele Touristen fahren von der Autobahn ab und machen hier eine Mittagspause, weil es hipp ist.

Standard: Warum wird Köln-Mülheim in den Medien dann nach wie vor als Ghetto und Parallelgesellschaft bezeichnet?

Yildiz: Wenn ein Bild einmal entstanden ist, dann hält es sich viele Jahre. Birgit Mattausch, Mitherausgeberin des Buches Urban Recycling, bezeichnet das auch als "Die Bronx im Kopf".

Standard: Die Bronx?

Yildiz: Die Bronx in New York ist ein historisches Beispiel dafür, wie lange sich ein negativer Mythos über eine Stadt beziehungsweise über einen Stadtteil halten kann - auch wenn die Probleme längst behoben sind und sich das Rad der Zeit schon weitergedreht hat. Die alten Bilder bleiben bestehen. Die Bronx gilt auch heute noch als gefährlich und heruntergekommen. Immer wieder hört man auch Begriffe wie etwa "demokratiefreie Zone". Ich finde das erschreckend.

Standard: Wie lange dauert es, bis so ein Bronx-Phänomen wieder verschwunden ist? Eine Generation? Länger?

Yildiz: Das kann sehr lange anhalten. Wenn die wertvollen Ressourcen der Migration nicht erkannt werden, dann gibt es die veralteten Bilder in ein, zwei Jahrzehnten womöglich immer noch. Wer kann das schon sagen!

Standard: Eine Hypothese: Großstadt ohne Migration?

Yildiz: Eine Großstadt ohne Migration wäre bestenfalls ein großes Dorf. Mir ist so ein Modell nicht bekannt. Und ich wage zu bezweifeln, ob so ein Modell jemals funktionieren würde. (DER STANDARD, Printausgabe, 22./23.1.2011)