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Johan Vande Lanotte soll Belgien eine Regierung bringen
So etwas hat es in Belgien noch nie gegeben. Zehntausende Menschen, vor allem junge, gingen am Sonntag demonstrieren. Ihr Protest-Motto - "Eine Schande" - war aber nicht gegen die Regierung gerichtet. Das bunte Volk, das durch die Straßen von Brüssel zog, forderte lautstark, dass es endlich eine echte Regierung geben möge: "Regiert oder schleicht euch!", stand auf Plakaten, an die Parteien gerichtet. Fünf unabhängige Studenten und Künstler im Alter zwischen 20 und 27 riefen per Facebook und SMS dazu auf.
Seit 224 Tagen wird das Königreich vom provisorischen Ministerrat geführt. Premier Yves Leterme hatte im April 2010 bei König Albert II. den Rücktritt eingereicht, gescheitert am Sprachenstreit.
Wahlen im Juni brachten noch mehr Splitterparteien ins Parlament (12). Im französischsprachigen Südteil des Landes, der Wallonie, wurden die Sozialisten unter Elio Di Rupo deutlich gestärkt. Im nördlichen niederländischsprachigen Flandern triumphierte die Neue Flämische Allianz des Separatisten Bert De Wever. Er will Belgien abschaffen, den König in Rente schicken und einen unabhängigen Staat Flandern errichten.
Bis Oktober verhandelten die Parteien - vergeblich. Dann rief der König Johan Vande Lanotte zu Hilfe, einen sozialistischen Senator aus Alveringem, und ernannte ihn zum "Schlichter".
Ihm sollte gelingen, was die Streithähne und -hennen an den Parteispitzen nicht und nicht zusammenbringen: der Kompromiss beim zentralen Thema Staatsreform. Der sollte die Flamen umstimmen (durch Reduktion der Finanztransfers in den Süden) und dennoch die Einheit des Landes erhalten (für die Wallonen unabdingbar). Das Problem dabei ist, wie die dritte Region - Brüssel - weiter finanziert werden soll. Der 55-Jährige Vande Lanotte, studierter Politik- und Rechtswissenschafter, versuchte dies - bis Anfang Jänner. Das Volk bangte mit ihm, auch wegen einer persönlichen Tragödie. Zweimal musste Vande Lanotte unterbrechen, um ans Sterbebett seiner Mutter zu eilen. In der Nacht, als er dem König sein Scheitern berichten und um Dispens bitten wollte, starb sie. Albert II. bat ihn weiterzumachen.
Vande Lanotte, langjähriger Abgeordneter, ehemaliger Innen-, Haushalts- und Integrationsminister, Ex-Parteichef, äußerst erfahren mit Winkelzügen der Parteien, gehorchte. Er bleibt die Schlüsselperson im Land. Der Aufstand der Jugend gibt ihm Auftrieb. Ob das reicht, Neuwahlen abzuwenden, ist fraglich. (Thomas Mayer, STANDARD-Printausgabe, 24.01.2011)