Die Erzählungen des unglücklichen preußischen Dichters Heinrich von Kleist (1777-1811) sind von niederschmetternder Wucht. In Das Erdbeben in Chili (1807) heben seismische Erschütterungen eine ganze Welt aus den Angeln: Ein Spanier, der sich mit der Tochter eines chilenischen Granden "in einem zärtlichen Einverständnis" befunden hat, steht im Begriff, sich am Pfeiler seines Kerkers in St. Jago zu erhängen. Die von ihm geschwängerte Josephe ist im Klostergarten der Karmeliterinnen mit der Frucht ihrer verbotenen Liaison niedergekommen: "auf den Stufen der Kathedrale", wie Kleist, ein Cinemascope-Künstler der Sprache, beflissen mitteilt.

Die kühnen Satzreihen des Heinrich von Kleist besitzen etwas Nötigendes: In ihren reißenden Flussschnellen versinken die Menschen, um jählings wieder hochgehoben und an die Ufer ihrer reichlich kurios anmutenden Schicksale gespült zu werden.

Josephe soll öffentlich hingerichtet werden. Ihr Jeronimo befestigt soeben für sich den Strick, als "der größte Teil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob das Firmament einstürzte, versank, und alles, was Leben atmete, unter seinen Trümmern begrub".

Wie durch ein Wunder entrinnen die beiden Liebenden einem Unglück, das ihre Todesverfallenheit aufschiebt. Aus der zertrümmerten Stadt quellen die Überlebenden heraus, und gleich einer Urgesellschaft lagern die erschütterten Menschen auf köstlichem Talgrund unter Granatapfelbäumen. Das Kindchen ist in Sicherheit; das Gottesgericht hat die Fesseln des Gesetzes von den Sündern abgestreift. Sehr viel näher kann man in der auf blinder Gewalt gegründeten Welt des mit der Einrichtung der Schöpfung hadernden Kleist dem Glück gar nicht kommen.

Es gehört zu den vielen Rätseln der Kleist'schen Dichtung, warum sich unsere Heilige Familie von wiedergetroffenen Bekannten dazu bewegen lässt, in die zerstörte Stadt zurückzukehren, um dort, in der verschont gebliebenen Dominikanerkirche, einer Bittmesse beizuwohnen. Ein Prälat liest der verängstigten Gesellschaft in dem Gotteshaus die Leviten. Kein Wunder: Erdbeben sind seit der Vernichtung Lissabons 1755 ein theologisches Thema. Wie könne Gott in seiner Allmacht es zulassen, dass Unschuldige in der von ihm verantworteten Schöpfung zugrunde gerichtet werden?

Das Thema der Sündhaftigkeit kommt auch in der Predigt aufs Tapet, und unser Paar, Josephe und Jeronimo, findet sich in der dichten Menschenmenge vom Geistlichen namentlich bloßgestellt. Was nun folgt, ist in den Annalen der deutschen Dichtung ohne Beispiel: Kleist, der gescheiterte Berufssoldat und lebhafte Befürworter eines Partisanenkriegs gegen Napoleon, schwelgt in literarischen Gewaltexzessen.

Josephe und Jeronimo werden von einem Strudel aus Menschenleibern regelrecht verschluckt. Ihr Freund, ein gewisser Don Fernando, hält den kleinen Philipp und sein eigenes Söhnchen "in der Linken", während er mit der schwertbewehrten Rechten hilflos in die Menge hineinstochert. Ein infernalischer Schuhmachermeister reißt ihm eines der beiden Kinder von der Brust herunter und zerschmettert es "an eines Kirchpfeilers Ecke". Es handelt sich um das "falsche" Kind insofern, als der sündig geborene, jetzt verwaiste Philipp ihm als Ziehkind übrigbleibt. Rätselhaft Kleists Schluss: Don Fernando ist es nun zumute, als "müsst er sich freuen". Aber müsst' er das wirklich? (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 26. 1. 2011)