Der behaarte Riese und sein Habitat: Links ein mit einem Millimeter Länge gigantischer Vertreter jener Einzellerart, die ausschließlich in den Trichtern von Bromelien (rechts) lebt.

Fotos: W. Foissner, S. Jona

Die Kreatur wirkt, als könnte sie einem Gemälde des mittelalterlichen Meisters Hieronymus Bosch entsprungen sein. Der gliederlose Körper ist bohnenartig gekrümmt, aus der Haut sprießen dicke einzelne Haare. An der Vorderseite des seltsamen Wesens klafft ein gähnendes schiefes Maul. Nein, eine Schönheit ist Bromeliothrix metopoides nicht. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne.

Forscher sind von dem nur 50 Mikrometer langen Geschöpf gleichwohl fasziniert. B. metopoides ist ein Einzeller, ein Ciliat, um genauer zu sein, und als solcher verwandt mit den berühmten Pantoffeltierchen. Das Besondere an dieser vom österreichischen Biologen Wilhelm Foissner neulich im Fachblatt Acta Protozoologica (Bd. 49. S. 159) zum ersten Mal beschriebenen Spezies ist vor allem ihr Lebensraum. Man findet sie praktisch nur in den Blattachseln und Trichtern von Bromelien, einer tropischen Pflanzenart, die mit den Ananasgewächsen verwandt ist. Das Wasser in diesen Trichtern bildet winzige Tümpel, ganz eigene Minibiotope.

Wassertanks im Tropenwald

Bromelien wachsen oft als sogenannte Epiphyten (auf Deutsch: Aufsitzerpflanzen) auf Bäumen. In vielen Tropenwäldern stellen sie einen Großteil des für Tiere frei zugänglichen Wassers zur Verfügung. Hunderte verschiedene Insekten-, Kleinkrebs- und Amphibien-Arten leben ausschließlich in den "Bromelien-Tanks" oder verbringen ihre Jugend darin, erklärt Wilhelm Foissner. "Und auf einem mittelgroßen Baum können hunderte, tausende Bromelien wachsen."

Foissner, der an der Universität Salzburg Zoologie lehrt, widmet sich seit Jahren der Erforschung von bromelienbewohnenden Ciliaten und wird dabei vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert. Rund 50 neue Arten hat der Experte dabei bisher entdeckt. Einige davon konnte er bereits wissenschaftlich beschreiben.

Seltsame Sorten sind darunter wie der riesige Vertreter der Gruppe Tetrahymenidae, der bis zu 0,8 Millimeter lang wird (siehe Bild). Für Einzeller sind das gigantische Ausmaße. Auch dieses Protozoon verfügt über ein außergewöhnlich großes Maul, mit dem es andere Ciliaten und Flagellaten, aber auch mehrzellige Organismen wie Rädertiere und Krebslarven verschlingen kann.

Während die allermeisten Süßwasser-Protozoen praktisch weltweit verbreitet sind und Pfützen, Tümpel und andere für sie geeignete Lebensräume rund um den Globus bewohnen, kommen B. metopoides und Co nur in Mittel- und Südamerika vor - der Heimat der Bromelien. Noch erstaunlicher: Nicht mal im Waldboden konnten diese Einzeller bisher nachgewiesen werden, obwohl große Mengen von ihnen mit abfließendem Wasser dorthin gelangen müssten. "Ein ganz sonderbares Phänomen" , staunt Foissner. "Wir wissen nicht, wohin die verschwinden." Im Labor lassen sich die Kleinstlebewesen trotzdem gut halten, berichtet der Biologe.

Die Entdeckung der Bromelien-Ciliaten beruht auf Neugierde und Zufall. 1999 besuchte Wilhelm Foissner im Urlaub die Küstenwälder der Mata Atlantica in Brasilien. Dort wachsen unter anderem mannshohe Boden-Bromelien - mit jeder Menge Wasser darin. "Ich habe diese schönen grünen Tümpel gesehen und dachte mir, da nehme ich was mit." Der Forscher glaubte allerdings nicht wirklich, darin auf etwas Außergewöhnliches zu stoßen. Doch Foissner irrte sich. Bereits in der ersten Wasserprobe fand er fünf bis dahin unbekannte Ciliaten-Arten. Eine kleine Sensation.

Vermutlich handelt es sich bei den Bromelien-Ciliaten um überaus spezialisierte Lebensformen, die sich im Verlauf ihrer Evolution optimal an ihre besonderen Habitate anpassten. Möglicherweise haben sie sich sogar gemeinsam mit den Bromelien entwickelt. Die Pflanzenfamilie entstand vor mindestens 65 Millionen Jahren. Die Einzeller könnten theoretisch tausende noch unbekannte Spezies hervorgebracht haben.

Harte Konkurrenzkämpfe

Die Mikroorganismen stehen unter einem starken Selektionsdruck, was den Evolutionsprozess weiter antreibt. "So ein Bromelien-Tank ist kein statischer Lebensraum" , betont Wilhelm Foissner. Zwischen den Regengüssen verdunstet viel Wasser.

Die Bewohner der Minitümpel werden dabei zusammengedrängt. Es kommt zu harten Konkurrenzkämpfen. So lasse sich laut Foissner wohl auch der Riesenwuchs einiger Arten erklären. "Als Überlebensstrategie in einem hochkompetitiven Biotop." Andere häufige Spezies sind dagegen besonders klein, oder sie können wie B. metopoides innerhalb von zwei, drei Teilungsgenerationen deutlich an Größe gewinnen und ihre Ernährung von Bakterien auf andere Protozoen umstellen.

Die winzigen Gewässer der Bromelien bieten offenbar eine Fülle ökologischer Nischen. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 26.01.2011)