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Foto: AP/dapd/ Cedric Joubert

Was wird übrigbleiben von der internationalen Kritik an der neuen ungarischen Medienverfassung, die der national-konservative Premier Viktor Orban auf den Weg brachte (ein ganzes Konvolut von mehreren Gesetzen, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen), bevor er den EU-Vorsitz übernahm? Diese Frage wird sich offenkundig viel rascher stellen, als man noch vor ein paar Tagen glaubte. Und die Antworten darauf werden aus Sicht der Kritiker vermutlich weit weniger erfreulich beantwortet werden, als diese gehofft haben.

Die Ungarn werden ein paar (kleinere) strittige Bestimmungen abändern bzw. präziser formulieren, damit eine Kollision mit EU-Recht vermieden wird, insbesondere dort, wo es um private Audiovisuelle Dienste (AVMSD) geht, seien es Video-on-demand-Dienste oder Blogs. Man wird es als Missverständnis darstellen, dass auch Blogs der Vorgabe von „ausgewogener Berichterstattung“ unterworfen sein sollten. Das Medienzulassungsverfahren wird vielleicht ein weniger bürokratisch werden als gedacht. Aber im Kern wird das Mediengesetz bestehen bleiben, wie es gedacht war.

Die EU-Kommission wird nicht feststellen, dass die Regierung Orban ganz gezielt die Presse seines Landes an die Kandare nehmen, die Presse- und Meinungsfreiheit einschränken will, die nach den Worten von José Manuel Barroso „ein heiliges Recht der Union“ ist. Sie wird auch keine grundsätzlichen Einwände gegen jene Medienüberwachungsbehörde haben, in der fünf Parteigängern Orbans weitgehende Rechte zur Kontrolle des wichtigen öffentlich-rechtlichen Sektors bekommen und im Extremfall harte Strafen verhängen können.

So sieht es aus, wenn man sich in Brüssel in der EU-Kommission und unter EU-Rechtsexperten umhört, die sich in dem verwirrenden Regelwerk von Binnenmarkt- und AVS-Richtlinien bzw. mit Mediengesetzen auskennen (wie sie auf EU-Ebene nicht existieren). Letzteres ist, so sagt man, das Entscheidende. Für die Medienfreiheit sind primärrechtlich die Mitgliedstaaten zuständig. Die EU-Kommission kann das Ganze nur über den Umweg angehen, indem sie prüft, ob irgendwelche nationalen Bestimmungen den freien Zugang von Medien in nationale Märkte behindern, was nicht erlaubt ist. So wie Kroes, die Verantwortliche für die digitale Agenda, das gerade versucht. Aber ansonsten gilt die Grundregel: Mediengesetze werden von nationalen Regierungen gemacht, nicht in Brüssel. So ist die Beschlusslage.

Das mögen viele seltsam finden. Gibt es nicht seit dem Inkrafttreten des EU-Vertrages die Charta der Grundrechte, in der auch das Recht auf Pressefreiheit und freie Meinungsäußerung unter anderem festgeschrieben ist? Ja, lautet die Antwort von EU-Juristen. Aber diese Charta kann direkt nur auf EU-Institutionen und deren Handlungen angewendet. Sie schützt nur, wenn es um die Umsetzung von EU-Recht geht. In anderen Fällen müssen sich die Bürger, wie bisher auch, zunächst an die nationalen Behörden und Gerichte wenden, wenn sie sich in ihren Rechten beschnitten sehen.

Daran hat „Lissabon“ nichts geändert. Es ist praktisch auszuschließen, dass die EU-Kommission ein Verfahren gegen Ungarn wegen eines Verstoßes gegen die Grundrechtscharta auch nur andenken wird. Im Prinzip wäre das nach Artikel 7/EUV vorgesehen: „Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünftel seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung von in Artikel 1a genannten Werten durch einen Mitgliedstaat besteht“, heißt es da. Das geht bis zum Stimmrechtsentzug.

Diese Regelung war immer schon als „ultima ratio“, als abschreckende juristische „Atombombe“ der EU gegen potentielle Grundrechtsverletzer gedacht. Die hohe Hürde einer Vier-Fünftel-Mehrheit im Ministerrat kann auch kaum genommen werden.

Es war Insidern daher schon bei der heftigen Debatte über Ungarn im EU-Parlament vergangene Woche klar, dass die ständige Beschwörung der Grundrechtscharta nur ein allzu oberflächliches Manöver ist. Es war kein Zufall, wenn die Kritiker bei den Parlamentariern von SP, Grünen, Liberalen und Linken fast inständig an Orban appellierten, er möge doch von sich aus einen Rückzieher machen: Sie wissen, dass es legistisch nur schwer eine Handhabe gibt.

Man hatte sich bereits zuvor informell darauf geeinigt, die EU-Kommission zu betrauen, und deren Urteil zu respektieren. Die aber kann nur das tun, was das EU-Recht hergibt. Also wurde in der Kommission Kroes beauftragt – und nicht Viviane Reding, die an sich für die Grundrechte und deren Wahrung zuständig ist.

Im Fall der Abschiebung von Roma durch die französische Regierung war das anders, man erinnere sich. Da führte Reding das Verfahren, drohte nicht nur wegen der Verletzung der Richtlinie zur Personenfreizügigkeit im EU-Raum, sondern auch mit der Charta – weswegen Präsident Nicolas Sarkozy damals ja so außer sich war. Am Ende hat man sich dann rasch und relativ still darauf geeinigt, dass Frankreich punkto Roma alles unterlässt, was gegen die Richtlinie zur Personenfreizügigkeit verstoßen könnte. Die Kommission war zufrieden. Es ist ihr Job, für die Einhaltung von EU-Recht zu sorgen. Nicht mehr. Was an der Abschiebung von Roma nach Einzelfallprüfung nichts änderte.

So ähnlich, höre ich, könnte es jetzt mit dem ungarischen Mediengesetz laufen. Orban muss lediglich all jene (Teil)Bestimmungen klären, ändern, präzisieren, die zu einer möglichen Verletzung der EU-Richtlinie für Audiovisuelle Medien Services (AVMSD) führen könnten. Der große Bereich der Zeitungen ist davon gar nicht betroffen.

Aber selbst in diesem eingeschränkten Sektor wie den Audiovisuellen Medien gibt es Bestimmungen, auf deren Einhaltung die Kommission drängt (und drängen muss), worüber manch einer vielleicht gar nicht so glücklich sein wird, wenn das jetzt groß bekannt wird. Ich habe das in einem eigenen Bericht im Print bereits dargestellt.

Unter dem Titel „Herkunftslandprinzip“ weist Kroes die ungarische Regierung darauf hin, dass Medienservices aus EU-Ländern, die in Ungarn tätig werden, grundsätzlich der Judikatur ihres Ursprungslandes unterworfen sind, und dass die ungarische Regierung diese nicht nach eigenem Ermessen vom Markt ausschließen oder mit hohen Geldstrafen belegen könne, auch dann nicht, wenn die Regeln zum Schutz von Minderjährigen und der Aufforderung zum Hass nach ihrer Meinung verletzt werden, so wie das in Artikel 176 und 177 des Mediengesetzes vorgesehen ist (siehe im Download oben den Originalbrief von Kroes, englische Fassung).

Der entscheidende Satz ist äußerst verschachtelt formuliert, und Kroes argumentiert auch von der anderen Seite her: Zwar sehe die EU-Richtlinie zu AV-Medien „die Möglichkeit vor, von der Verpflichtung (eines Mitgliedslandes, Anm.) vorübergehend abzugehen, den freien Empfang sicherzustellen ebenso wie die Wiederausstrahlung von AV-Services aus anderen Mitgliedstaaten, in Fällen, die man als Verletzung der Regeln zum Schutz von Minderjährigen und vor der Aufhetzung zum Hass betrachtet, unter der Bedingung, dass diese Maßnahmen von der Kommission bewertet und als mit EU-Recht vereinbar erachtet werden, und unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit.“

Man könnte das, wenn man böswillig ist, auch anders formulieren. Die Kommission ist der Meinung: Freier Markt geht vor Jugendschutz. Was im Herkunftsland eines AV-Dienstes erlaubt ist, ist überall erlaubt, ohne Bedingungen. Die Kommission erinnert damit an etwas, was in manchen EU-Staaten mit fortschreitender Entwicklung des Internet inzwischen durchaus kontroversiell gesehen wird. Wie weit geht Medienfreiheit? Darf man alles zeigen, jedes Grauen, vielleicht auch Manipulationen? Wo sind die Grenzen?

Wenn ein Sender oder ein Internetdienst aus dem Ausland zum Beispiel Bilder von misshandelten Kindern zeigt, darf dann eine nationale Behörde einschreiten oder nicht? Oder wenn ein Blogger zum Beispiel von Dänemark aus Nazipropaganda verbreitet? Darf man einen Mord überall in der EU zeigen, nur weil das in einem EU-Land möglicherweise erlaubt ist, oder dürfen staatliche Behörden da notfalls eingreifen? Das sind gar nicht so einfache Fragen, die damit jetzt hochgespült werden.

Dazu ein reales Beispiel aus Österreich: Vor drei Jahren hat der Fall Luca für riesige Aufregung gesorgt. Dieses Kind wurde nur 18 Monate alt. Der Bub war vom Freund seiner Mutter schwer missbraucht und misshandelt worden, niemand schritt ein, bis er im November 2007 im Krankenhaus starb, wo er mit schweren Kopfverletzungen eingeliefert worden war. Wenig später tauchten Fotos des misshandelten Kindes auf, die eine Krankenschwester gemacht hatte, und die wurden von vielen Medien – auch in der ZIB1 - gezeigt. Nach österreichischem Recht ist das schlicht und einfach verboten. Man darf Menschen auch über den Tod hinaus nicht die Würde nehmen. Die Veröffentlichung von Fotos von Kindern, ohne Einschränkung von toten Kindern vor allem, ist ohne Zustimmung grundsätzlich untersagt.

Mag sein, dass die EU-Kommission in einem solchen Fall formaljuristisch absolut recht hat. Aber ich bin schon sehr gespannt, was in Budapest die Populisten an der Macht aus diesem Einwand aus Brüssel noch machen werden. Es besteht eine gewisse Gefahr, dass die ganze Sache noch unappetitlich werden könnte. Andererseits: Wie sagte der ungarische Präsident Pal Schmitt heute bei einem Besuch in Brüssel? „Ich kann bestätigen, wir haben das diskutiert. Meine Regierung hat den Brief der Kommission erhalten und wird das analysieren. Wenn Korrekturen erforderlich sind, kann ich versichern, dass die Korrekturen gemacht werden.“

So wird es wohl kommen. Das klingt, als wäre es von Frankreichs Präsident Sarkozy am Höhepunkt der Romaaffäre abgeschaut: „“Ich habe sofort Anweisung gegeben, das zu stoppen, als ich davon gehört habe“, sagte er nach dem EU-Gipfel im Oktober uns Journalisten. „Selbstverständlich“ werde seine Regierung die von der Kommission verlangten Änderungen umgehend durchführen. So kam es.