Andauernde Proteste in Tunesien trotz Regierungsumbildung - AM
Polizei macht Jagd auf Demonstranten - Ashton lädt neuen Außenminister nach Brüssel ein
Tunis - Tunesien kommt trotz der durch Massenproteste gegen die alte Garde erzwungenen Kabinettsumbildung nicht zur Ruhe. Erneut haben am Freitag Hunderte gegen noch an der Macht verbliebene Gefolgsleute von Ex-Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali demonstriert. Bei der gewaltsamen Auflösung einer Sitz-Blockade vor der Regierungszentrale in Tunis durch die Polizei gab es am Abend zahlreiche Verletzte. Die Polizisten gingen mit Tränengas gegen die Demonstranten vor. Diese formierten sich wenig später auf der größten Avenue der Hauptstadt neu und zertrümmerten einen Bus. Die Polizei reagierte mit Warnschüssen.
Ganze Gruppen von Demonstranten wurden von Polizeikräften durch die Hauptstadt gejagt und mit Tränengas beschossen, wie Augenzeugen berichteten. Die Demonstranten warfen mit Steinen nach den Beamten. Rund 200 Islamisten forderten bei einem Marsch durch die Hauptstadt Religionsfreiheit.
Neuer Außenminister kommt nach Brüssel
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat den neuen Außenminister der tunesischen Übergangsregierung, Ahmed Abderraouf Ounais, zu Gesprächen nach Brüssel eingeladen. Das Treffen finde wahrscheinlich kommenden Dienstag statt, teilte eine Sprecherin Ashtons am Freitag mit. Der 75-Jährige war am Donnerstag zum Außenminister ernannt worden. Die EU verhängt Sanktionen gegen den Ben-Ali-Clan, die Entscheidung würde am Montag bei einem Treffen der EU-Außenminister getroffen, verlautete aus Brüsseler Diplomatenkreisen. Der nach Saudi-Arabien geflüchtete Ben Ali wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Seine Konten in der EU sollen eingefroren werden. Auf ein Einreiseverbot für Mitglieder des Ben-Ali-Clans konnten sich die EU-Staaten aber bisher nicht einigen.
In der Stadt Sidi Bouzid - wo der Volksaufstand im Dezember seinen Anfang nahm - gab es am Abend eine große Solidaritätskundgebung mit mehreren tausend Teilnehmern. Zahlreiche der in Tunis Demonstrierenden stammen aus dieser Stadt. Die mehrtägige Sitzblockade vor dem Sitz der Übergangsregierung hatte sich gegen Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi gerichtet, der als einer von drei alten Gefolgsleuten Ben Alis noch im Kabinett verbleibt. Sie soll das Land innerhalb von sechs Monaten auf Neuwahlen vorbereiten.
Am Vortag hatte der größte Teil der alten Garde nach tagelangen Protesten die Übergangsregierung verlassen. Die einflussreiche Gewerkschaft UGTT hat signalisiert, dass sie Ghannouchi nicht unterstützen, aber immerhin tolerieren würde. Alle anderen Schlüsselressorts wie Verteidigung, Inneres, Äußeres und Finanzen werden dagegen neu besetzt.
Der frühere französische Widerstandskämpfer und Botschafter Stéphane Hessel betonte im Deutschlandradio Kultur, nach dem Volksaufstand in Tunesien müsse der Widerstand nun in demokratischen Strukturen münden. Es sei gefährlich, wenn man sich nur empöre und danach alles laufen ließe. "Es sieht so aus, als sei gerade in Tunesien der Widerstand jetzt mächtig", sagte der frühere UNO-Diplomat. "Aber wie weit wird er es aushalten, das ist eben die Frage." (APA/dpa/dapd/Reuters)