Nicht nur Requisiten, auch die Darsteller selbst, kommen als Klangkörper zum Einsatz.

Foto: Güler Alkan

Die Liebe zu Istanbul hat den österreichischen Regisseur Stefan Bohun dazu gebracht ein Theaterstück über das Leben in dieser außergewöhnlichen Stadt zu produzieren. Die Idee entstand während einer seiner vielen schlaflosen Nächte in Istanbul, wo er ein Jahr gelebt und an der Bilgi Universität studiert hat. Gewohnt hat Bohun zwischen den belebten Stadtvierteln Taksim und Cihangir, wo sich das Nachtleben Istanbuls abspielt und sich Bars und Clubs aneinanderreihen.

Schlaflosigkeit und der Traum vom Leben in Cihangir kommen auch in dem Stück vor. Allerdings ist dieser Traum viel zu weit weg, denn die Protagonisten, sechs Personen unterschiedlicher Herkunft, können sich nur die Miete in einer heruntergekommenen Stadtvilla im Armenviertel Tarlabaşı leisten.

Ausländer in Istanbul

"Wie ist das Leben als Ausländer in Istanbul, welche Biographien bringen die Leute mit, was verschlägt sie nach Istanbul", sind für den Regisseur dabei die ausschlaggebenden Fragen gewesen. Sonja, Deutschlehrerin aus Österreich, die im ersten Stock der alten Stadtvilla wohnt, ist auf der Suche nach ihrem türkischen Vater, den sie nie zu Gesicht bekommen hat. Der Däne Peter wiederum, der sich mit Yoyo aus Wien und Yunus, einem zurückgekehrten Gastarbeiter-Sohn aus der Schweiz, die Wohnung im zweiten Stock teilt, sucht den Sinn des Lebens.

Im dritten Stockwerk lebt das Schauspieler-Paar Melike und Emre, die sich mit Jobs als Synchronsprecher ihren Lebensunterhalt verdienen, beide träumen von richtigen Engagements als (berühmte) Schauspieler. Melike kann nachts nicht schlafen und will überhaupt raus aus Tarlabaşı, aus dem Rand ins Zentrum der Stadt hinein.

Künstler in der Peripherie

Tarlabaşı, das ist ein geschichtsträchtiger Stadtteil Istanbuls, der bis 1955, als es zu gewalttätigen Ausschreitungen und Vertreibungen kam, Griechen, Armeniern und Juden als Zuhause diente, mittlerweile aber von Kurden, Roma und afrikanischen Migranten bewohnt wird und als Armen- und Problemviertel gilt. Für Bohun geht es jedoch nicht vorrangig um das Aufzeigen sozialer Missstände. "Mich hat das Istanbul interessiert, wo es Menschen gibt, die Kunst machen wollen, nicht das Istanbul der anatolischen Binnenmigranten." Tarlabaşı spiegelt für ihn die aktuellste Entwicklung Istanbuls wieder, weil der Problembezirk der Stadtregierung ein Dorn im Auge ist und verschönert werden soll.

Parallele Lebenswelten

Für Melike und Emre ist das Überleben schwer, sie können die Miete nicht zahlen und geraten immer wieder in Streit darüber. Während das Paar im dritten Stock über Geld und die Zukunft streitet, denn Emre hält von Melikes Traum in Cihangir zu leben gar nichts, gehen unten die anderen Hausbewohner ihrem Alltag nach.

Mehrere Handlungen laufen gleichzeitig ab, und zwar so, dass die Zuschauer alle Darsteller auf einmal im Blickwinkel haben. Das wird einerseits durch die minimalistische und bewegliche Bühnenkonstruktion ermöglicht, andererseits durch den synchronisierten Einsatz von Requisiten, mit denen die Darsteller parallel zum Geschehen rhythmische Klangwelten erschaffen.

Mit den Rhythmen wird auch für eine interessante Geräuschkulisse gesorgt. So lässt Emre seine Frustration laut an einem Boxsack aus, während Melike nach dem Streit die Wohnung putzt und energisch den Teppich mit einem Teppichklopfer abklopft. Unten versucht Yunus mit seiner Mutter zu telefonieren, versteht aber kein Wort, weil seine Nachbarn und die Mitbewohner Peter und Yoyo, der sich immer wieder mit seiner türkischen Ex-Freundin aus Wien per Webcam unterhält, zu laut sind.

Klangwelten aus Requisiten

Musik und Choreographie haben Johannes Bohun und Peter Stavrum Nielsen entwickelt, die beiden im Stück Yoyo und Peter spielen und jahrelang mit der STOMP-Gruppe aufgetreten sind. Dabei hatten sie von Anfang den Anspruch "was Eigenes zu machen und kein Rip-Off von STOMP, wir haben einen Haufen von Zeug ausprobiert und parallel zu den Charakteren Musik entwickelt", erzählt Johannes Bohun.

Mit Zeug meint er Alltagsgegenstände, die als Musikinstrumente genutzt werden, wie einen Vogelkäfig, bunte Schemel, Wasserkanister, Kartons mit dem Aufzug "Istanbul-Ekspres", Teegläser, Töpfe oder Backgammon-Würfel. Bei den Requisiten wurde auf Authentizität Wert gelegt, alle wurden auf Istanbuls Bazaren gekauft.

Und auch wenn sich manche/r Zuschauer/in am Anfang von den Rhythmen überladen fühlt, so fügen sich die Geräusche, Sounds und Videoprojektionen mit der Handlung und den Emotionen der Protagonisten zu einem Ganzen zusammen. Dabei sorgen die Musikeinlagen nicht nur für ironisierende und humorvolle Momente, sie unterstreichen und verstärken auch die Szenen, in denen es den Charakteren nicht so gut geht.

"Beziehungs-Boxkampf"

Wenn Melike den Frust und die Aggression Emres zu spüren bekommt und er sie schlägt, was im Laufe des Stücks immer öfter der Fall ist. "Es war uns wichtig, das Thema häusliche Gewalt bei einem modernen Paar zu zeigen, sonst wird das alles wieder reduziert auf die Herkunft oder Religion", betont Regisseur Stefan Bohun. Dabei wird die Gewalt symbolisch als Boxkampf zwischen den beiden dargestellt. Emre überreicht Melike auf dem Höhepunkt seiner Aggression immer die Box-Handschuhe. Erdrückend ist dabei das Geräusch der aufeinander treffenden Handschuhe.

Für Birsen Karacan, die Melike darstellt und das Stück mitproduziert hat, ist es schockierend, dass es sich um ein intellektuelles Paar handelt. "Beide arbeiten und haben dieselbe Ausbildung, aber Melike erfährt die gleiche Behandlung wie Frauen aus ärmeren Schichten", resümiert Karacan. Sie spielt stark und überzeugend in dem Stück. Wenn Melike ihre Wunden und Hämatome in einer Striptease-Szene zur Schau stellt, "um sich mit den Wunden zu versöhnen, sich selbst wieder zu finden in einem Körper, den sie nicht mehr spüren konnte, und der ihr fremd geworden ist", schildert Karacen ihren Charakter.

Integration umkehren

Die Suche nach sich selbst spielt in "Cihangir Insomnia" eine große Rolle. Für den Regisseur ist Identität ist in Istanbul ein großes Thema. So wie für Yunus, den doppelten Gastarbeiter, der zuerst in der Schweiz und dann in Istanbul, fernab der Heimat Anatolien, Gelegenheitsjobs ausübt, aber eigentlich ein alevitischer Saz-Spieler (Saz, orientalische Laute, Anm. Red.) ist. Und den Melike aufgrund seines Akzents fragt, ob er ein Fremder ist. Oder für Sonja, die meint, eine türkische Nase zu haben und sich auf die Suche nach dem Vater macht. "Wir wollen in dem Stück die Integration umkehren, da ist ein Däne, der in Istanbul als Gastarbeiter arbeitet und dabei Mevlana-Verse und alevitische Philospohen wie Yunus Emre und Haci Bektas Veli für sich entdeckt", so Stefan Bohun. (Güler Alkan, 28. Jänner 2011, daStandard.at)