SPÖ und ÖVP befinden sich in einer Krise. Als Antwort wird jetzt immer wieder ein Mehrheitswahlrecht gefordert. Die Parteien wollen sich für 30 Prozent der Stimmen mit mehr als 50 Prozent der Mandate belohnen. Die WählerInnen müssten eigentlich aufschreien. Denn ein Mehrheitswahlrecht ersetzt weder politische Zielvorstellungen noch politischen Gestaltungswillen.

Einziger Nutzen wäre, dass die Klientelpolitik auf die Spitze getrieben würde. Ein paar Jahre werden die einen bedient, dann die anderen. Dazu kommt, dass wahlarithmetische Mehrheiten gesellschaftliche Akzeptanz von Reformen nicht ersetzen. Eine Partei, die gerade 30 Prozent hätte, wäre nicht unbedingt mit großem Rückhalt für wichtige Reformen ausgestattet.

Aber auch die Grundannahme, dass das Mehrheitswahlrecht tragfähige Mehrheiten garantiert, ist eine Hypothese, die nicht den realen Kräfteverhältnisse der österreichischen Innenpolitik entspricht. Längst gibt es drei in etwa gleich starke Parteien - selbst ein Mehrheitswahlrecht kann unter solchen Bedingungen nicht zu absoluten Mehrheiten führen.

Dazu kommt, dass beim Mehrheitswahlrecht eine Stimme für eine große Partei doppelt Gewicht hat. Sie entscheidet nicht nur über die Stärke einer Partei bei den Parlamentswahlen, sondern auch darüber, wer den Kanzler stellt. Kleinere Parteien werden daher künftig, da sie auch als potenzieller Koalitionspartner an Relevanz verlieren, durch ein derartiges Wahlrecht in ihren Wettbewerbschancen existenziell geschwächt.

Parlamentswahlen sind aber keine Regierungs- und Kanzlerwahlen. Wer jetzt über das Parlament auch formal Regierungswahlen abhalten will, degradiert das Parlament endgültig zu einem Hilfsorgan der Bundesregierung.

Die BefürworterInnen eines Mehrheitswahlrechts könnten ehrlicher sein und eine Kanzlerdirektwahl fordern. Zumindest den Parlamentarismus würde das beleben. Das Parlament hätte dann eine eigenständige Rolle, und Parteien müssten nachweisen, ob sie etwas durchgesetzt haben.

Das Mehrheitswahlrecht führt Österreich zurück in die politische Steinzeit, wo sich Rot und Schwarz die Republik teilen. Wenn SPÖ und ÖVP nichts dazulernen, wird es ohnedies anders kommen. Das Mehrheitswahlrecht würde dann Strache mit der FPÖ als stärkste Partei an die Spitze der Republik spülen. (DER STANDARD-Printausgabe, 29./30.1.2011)