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Ein Erinnerungsbild vor der ausgebrannten Zentrale von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei in Kairo, Bürgerwehren organisierten sich ebendort.

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"Wir sind das Volk", sagt der junge Mann, der an einer großen Kreuzung den Verkehr regelt. Er gehört nicht zur Bewegung des 6. April. Diese Jugendbewegung hatte vor sechs Tagen über Facebook die Kampagne des Zorns lanciert, die seither jeden Tag Zehntausende im ganzen Land auf die Straße treibt. Mittlerweile haben die Auswirkungen der Revolte die gesamte Bevölkerung und alle Stadtquartiere erreicht. Die Polizei ist abgetaucht, und die Bürger haben spontan begonnen, den fehlenden Staat zu ersetzen. Sie regeln den Verkehr und säubern die Straßen, und sie haben Bürgerwehren gebildet.

In manchen Stadtteilen haben die Muezzine der Moscheen die Gläubigen aufgerufen, sich zu organisieren. Sie erteilten den jungen Männern den Auftrag, ihre Frauen und Kinder, aber auch Hab und Gut zu schützen. Viele Geschäfte haben ihre Scheiben verklebt, um die Auslagen zu verbergen. Die Nacht auf Sonntag war auch in Dokki, einer gehobenen Wohngegend unweit des Stadtzentrums, unruhig. Schüsse zerfetzten die Nachtruhe, während die lokale Bürgerwehr bewaffnet mit Holzprügeln vor einer kleinen Moschee Wache hielt.

In regelmäßigen Abständen stürmten sie laut schreiend los, immer dann, wenn Fremde in die Nähe kamen. "Mehrmals sind Kriminelle hier vorbeigezogen. Es sind Mitglieder der alten Polizei in Zivil. Sie haben Polizeiwachen gestürmt und Waffen erbeutet, und sie stehlen alles", schildert ein Hausmeister die Aufregung der Nacht. Einigen soll es sogar gelungen sein, in das angrenzende Gelände der renommierten Nasser-Militärakademie einzudringen, wo Offiziere aus dem ganzen arabischen Raum ausgebildet werden. "Die Soldaten stehen jetzt im Stadtzentrum. Uns beschützt niemand", sagt der Hausmeister.

Die Armee ist in immer größerer Zahl präsent. Am Sonntag ist sie auch an den Badeorten aufgefahren. Sie schützt vor allem strategisch wichtige Gebäude und Straßen, aber auch Museen oder die Pyramiden. Bisher haben die Soldaten die Demonstranten weitgehend gewähren lassen. Auch auf ihre Fahrzeuge wurden die Parolen gegen den Präsidenten gesprayt. Es bleibt aber unklar, welche Haltung die Armeeführung zu diesen Massenprotesten einnimmt. Die Generäle haben die Bürger eindringlich aufgefordert, sich an die Ausgangssperre zu halten, und sie zu Beginn der Sperrstunde mit tieffliegenden Kampfjets einzuschüchtern versucht.

Die Revolte hat den Alltag in der 20-Millionen-Metropole Kairo nun praktisch lahmgelegt. Am Sonntag hätte eigentlich die Arbeitswoche beginnen sollen, aber viele Büros blieben verwaist. Sämtliche Behörden und die Banken sind geschlossen. Die staatlichen Schulen und Universitäten haben ohnehin Semesterferien, und die internationalen Schulen haben ihren Betrieb auch für mindestens eine Woche eingestellt.

Mit der ausgedehnten Ausgangssperre von vier Uhr am Nachmittag bis um acht Uhr am Morgen ist der Tag auf acht Stunden zusammengeschrumpft. In dieser Zeit gilt es vor allem die Versorgung mit Lebensmitteln sicherzustellen. In den Regalen der Supermärkte klaffen schon mächtige Lücken. Frisches Brot ist knapp. Der Nachschub stockt, denn in Kairo dürfen Lastwagen nur in den Nachtstunden fahren, in denen jetzt die Ausgangssperre gilt. "Die wollen uns aushungern. Die Regierung hält Waren auch bewusst zurück", ist ein Verkäufer überzeugt.

Aber nicht einmal die Ausgangssperre hindert die Ägypter daran, ihren Protest fortzusetzen. Auf der Straße anzutreffen ist eine bunte Gesellschaft. Vom Kleinkind bis zum 90-jährigen Mann, vom Müllsammler bis zum Bankier im Nadelstreif-Anzug. Sie gehen jeden Tag wieder hin, obwohl die Opferzahlen rasch ansteigen. Mehr als 150 Tote und über 4000 Verletzte wurden bis jetzt gezählt. "Mit jedem Toten wird die Wut größer. Erst wenn Mubarak geht, wird dieser Protest zu Ende sein", sagt Atef. Den 60-Jährigen hat vor allem die Arbeitslosigkeit seines Sohnes zur Demonstration getrieben. An Durchhaltewille mangelt es nicht. "Wir haben 30 Jahre unter Mubarak gelitten. Da können wir für seinen Sturz noch ein paar Tage weiterleiden", erklärt ein junger Zahnarzt.

Die politischen Revirements des Präsident haben überhaupt nichts zur Entspannung beigetragen. Alle "Neuen" sind Figuren aus dem innersten Machtzirkel des Systems. Mohamed ElBaradei forderte am Sonntag demgemäß auf CNN erneut den Abgang Mubaraks. Er habe von den Demonstranten "das Mandat" die Situation in die Hand zu nehmen und wolle mit dem Militär verhandeln. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amre Moussa, plädierte für einen Multiparteienstaat in Ägypten. (Astrid Frefel aus Kairo, STANDARD-Printausgabe, 31.01.2010)