... und warum es nicht mehr angeht, Islam und Demokratie als Gegensatzpaar darzustellen.

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Als der junge tunesische Nationaldichter Abu al-Qasim Asch-Schabbi (1909-1934) unter französischer Besatzung ein Lied schrieb mit der legendären Strophe Wenn eines Tages das Volk sich zum Leben entschließt / Dann muss das Schicksal mit ihnen sein / Die Dunkelheit muss weichen / Und die Fesseln werden gebrochen, ahnte er nicht, dass diese Strophe kombiniert mit einem Teil eines Gedichtes des ägyptisch-syrischen Schriftstellers Mostafa Saadeq Al-Rafe'ie als Hymne der Revolution und des Widerstandes dienen wird. Eine tunesisch-ägyptische Kombination, die in diesen Tagen entgegen allen Erwartungen wiederauflebt.

Die wirkliche Überraschung dieser Revolutionen liegt darin, dass die Massen (anders als im Iran 1979) führerlos sind. Überrascht war die Opposition noch mehr als die Regierungen. Keine der Oppositionsparteien, weder die islamischen noch die linken noch die nationalen, können für sich die "Initialzündung" beanspruchen, umgekehrt müssen gerade sie sich fragen, was sie jahrzehntelang falsch gemacht haben.

Nicht nur die Regierung hatte ein Problem mit Meinungsfreiheit, auch die Opposition inklu-sive der Muslimbruderschaft. Innerhalb der starren hierarchischen Strukturen dieser Bewegungen wird ein kritischer, fragender und nachdenklicher Geist nicht geduldet.

Doch statt sich auf deren "göttlichen Wahrheiten" bequem auszuruhen, müssen nachvollziehbare politische Programme für die gesamte bunte Bevölkerung entwickelt werden. Der nach Tunesien zurückgekehrte Rachid al-Ghannouchi von der islamischen Reformbewegung An-Nahda betont die Notwendigkeit eines Mehrparteiensystems. In Ägypten muss das neue System sich für das Wohl aller Bürger einsetzen.

Lehren aus der tunesischen Revolution sollten auch die USA und Europa ziehen. Lange Zeit galten sowohl Zine El-Abidin Ben Ali als auch Hosni Mubarak als die Lieblingskinder des Westens, als Garant gegen einen "islamischen Vormarsch" , als ein stabilisierender Faktor in einer geopolitisch sonst instabilen Region. Und sie waren keine Gefahr für Israel, sondern im Falle Ägyptens hoch geschätzte "Friedenspartner" . Dass bei diesem westlichen Egoismus, gepaart mit Arroganz, doppelten Standards und Heuchelei, die Menschenrechte und ihre Freiheit und Würde auf der Strecke blieben, wurde beharrlich übersehen. Gipfel des Zynismus waren Versuche, Islam und Demokratie als Gegensatzpaar darzustellen und Muslime per se als demokratieunwillig. Die demonstrierenden, großteils muslimischen Massen strafen nun diese Behauptung Lügen.

Syrien als Vorreiter?

Die Bezeichnung "Diktator" war für die Achse des Bösen reserviert. Erst als Ben Ali mit dem Flugzeug flüchtete, wurde im Westen das Wort "Diktator" in den Mund genommen.

Allen noch scheinbar fest im Sattel sitzenden nahöstlichen Staatschefs erteilen die Ereignisse ebenfalls eine Lektion. Sie wären gut beraten, schnell einen Umdenkprozess in die Wege zu leiten. Der syrische Staatschef Bashar Al Assad könnte hier ein Beispiel geben, wenn er freie Wahlen durchführt. Er könnte sie sogar demokratisch gewinnen, zumal er bei breiten Schichten der Bevölkerung durchaus beliebt ist und seine Hände nicht mit Blut befleckt sind.

Der Konflikt um Israel und Palästina bleibt als Schlüsselthema ein überaus hartes und unberechenbares Terrain. War Israel bis jetzt der Unterstützung der ägyptischen Führung sicher, könnte dieser bequeme Status nun wackeln. Auch die israelische Führung wird einen rauen Wind zu spüren bekommen. Die Politik der Diktate und der Missachtung aller Uno-Resolutionen wird nicht mehr mit der gleichen Kaltblütigkeit aufrechterhalten bleiben können. Alle diese Faktoren werden uns in den nächsten Jahren beschäftigen, aber nach den Ereignissen in Tunesien und Ägypten unter einem ganz anderen, herausfordernden Licht. (DER STANDARD, Printausgabe, 1.2.2011)