Maghreb-Experte Jürgen Theres.

Die Hanns-Seidel-Stiftung mit Sitz in München ist eine der CSU (Christlich-Soziale Union) nahe stehende Einrichtung für politische Bildung. Benannt ist die Stiftung nach dem ehemaligen CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Hanns Seidel.

Sie betreibt politische Bildungsarbeit mit dem satzungsmäßigen Ziel, die "demokratische und staatsbürgerliche Bildung des deutschen Volkes auf christlicher Grundlage" zu fördern.

Mit der Akademie für Politik und Zeitgeschehen wurde daneben ein Forschungsinstitut für Wissenschaftsförderung und wissenschaftliche Politikberatung geschaffen, das als Think Tank politische Konzepte und Strategien erarbeiten sollte.

Die Stiftung verfügt zudem über die beiden Bildungszentren Kloster Banz und Wildbad Kreuth und das Konferenzzentrum München, ein Büro in Berlin sowie über Verbindungsstellen in Brüssel, Washington und Moskau. Sie ist zudem in vielen Städten Afrikas, Asiens, Südamerikas und Osteuropas mit Projektbüros der Entwicklungszusammenarbeit vertreten.

Foto: Jürgen Theres

Während der ägyptische Präsident Hosni Mubarak weiterhin seinen Rücktritt verweigert, versucht Tunesien den Neuanfang. Die neu gebildete Übergangsregierung soll das Land nach der Flucht des autoritären Ex-Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali auf Neuwahlen vorbereiten. Jürgen Theres, seit sieben Jahren Leiter des Maghreb-Büros der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung in Tunis, sprach mit derStandard.at über die derzeitige Lage im Land.

derStandard.at: Seit der Bildung der Übergangsregierung vergangenen Donnerstag war in Tunesien nach wochenlangen Protesten zunächst weitgehend Ruhe eingekehrt. Am Montag ist es nun wieder zu Demonstrationen und gewaltigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen. Nimmt das Leben in Tunis allmählich wieder seinen normalen Lauf oder geht der Protest weiter?

Jürgen Theres: Ich glaube nicht, dass die Proteste weitergehen. Es gibt drei große Gruppen im Land: Zunächst einmal die moderaten Islamisten und Salafisten, die keine Demokratie, sondern ein islamistisches Kalifat wollen. In der Mitte gibt es die große Gruppe der Konservativen, die bisher in der Einheitspartei (Konstitutionellen Demokratischen Versammlung (RCD), von Ex-Präsident Zine el Abidine Ben Ali geleitet, Anm.) drinnen waren. Und dann gibt es noch das linke Spektrum, und zwar einerseits die linke Extreme, aber auch zwei sozialdemokratische Parteien und die Gewerkschaften. Mit der jetzigen Übergangsregierung hat man einen Kompromiss gefunden, in dem sich der Großteil der Bevölkerung wiederfindet – was doch sehr schwierig war – und ein großer Konsens darüber herrscht, dass nur ein demokratischer Neuanfang versucht werden soll und kann.

Es gibt dann außerdem noch linke Splittergruppen und radikale Islamisten, die die Leute auf der Straße mobilisieren wollen, weil sie befürchten, dass sie bei demokratischen Wahlen nicht genügend Wählerstimmen erhalten könnten. Aber das sind eigentlich nur Einzelphänomene. Das Land ist mittlerweile doch sehr, sehr ruhig. Auch ist die Revolution eigentlich – im Gegensatz zu dem, was die meisten Medien berichtet haben – relativ kontrolliert und ruhig abgelaufen. Die meisten Unternehmen haben zum Beispiel währenddessen einfach weitergearbeitet. Die schweren Übergriffe sind in der Zeit passiert, bevor der ehemalige Staatspräsident Ben Ali das Land verlassen hat.

derStandard.at: Wie problematisch ist es, dass Gefolgsleute des geflüchteten Machthabers Zine el-Abidine Ben Ali weiter Schlüsselpositionen in der Übergangsregierung besetzen?

Jürgen Theres: Das muss man differenziert sehen. Auch Ben Ali enstammte an sich der Destour-Bewegung (Unabhängigkeitsbestrebungen der tunesischen Bevölkerung gegen die französische Kolonialmacht, Anm.), die nach der Unabhängigkeit zunächst von Habib Bourguiba (der erste Präsident Tunesiens und Vorgänger Ben Alis, 1957-1987) geleitet wurde. Aus der Bewegung wurde eine Partei, die auf die Modernisierung gesetzt und in Tunesien eine Republik eingeführt hat, die zum Beispiel Frauen gleichgestellt und weitgehend befreit hat. Das war also eine sehr revolutionäre Bewegung, die es geschafft hat, aus Tunesien ein modernes Land mit modernen Verwaltungsstrukturen und einer sehr gebildeten Gesellschaft zu machen.

Ben Ali bei seiner Machtergreifung 1987 aber mit dem Versprechen angetreten, die Demokratie einzuführen, nicht als Präsident auf Lebenszeit zu kandidieren und eine freiere Gesellschaft zu schaffen. Diese Ziele hat er zunehmend verraten und ist in den vergangenen zehn Jahren immer mehr zu einem Diktator geworden, der zusammen mit seiner Familie das gesamte Land ausgeplündert hat. Viele der Leute, die aus dieser Bewegung stammen und in der Regierung waren, sind nicht automatisch Gefolgsleute Ben Alis. Das sind Leute, die eine moderne Marktwirtschaft und einen Verfassungsstaat wollen und die vermutlich durchaus Schlimmes verhindert haben.

derStandard.at: Die Übergangsregierung hat also schon eine realistische Chance bis zu den kommenden demokratischen Wahlen durchzuhalten?

Jürgen Theres: Ich glaube es gibt einen sehr, sehr weitgehenden Konsens darüber, die Demokratie zu wagen. Besonders nachdem man die Diktatur erlebt hat und mitbekommen hat, wie die demokratische Verfassung, die Tunesien im Prinzip durchaus hat, sowie alle Organe gleichgeschaltet worden sind, und wie sich ein Diktator dazu aufgeschwungen hat, alle Freiheiten zu unterdrücken. Zur Zeit werden Verfassungs- und Rechtsänderungen vorbereitet. Die Übergangsregierung hat gute Chancen. Tunesien hat einen sehr starken Mittelstand, der sehr viel zu verlieren hat, der ein großes Interesse an Demokratie hat und der nicht will, dass diese Chance der Demokratisierung vertan wird. Das weiß auch die Übergangsregierung.

Die meisten Leute haben gar nicht wirklich begriffen, was in Tunesien passiert ist. Es war zwar ein Aufstand der Jugend, aber Ben Ali wurde letztendlich durch eine Palastrevolution beseitigt. Das lief sehr kontrolliert ab und da waren davor schon Kräfte im Palast, die schon lange darauf gewartet haben, sich ihm zu entledigen, weil sie eingesehen haben, dass sein Regime eine Sackgasse war.

derStandard.at: Die Probleme des Landes, wie etwa die Arbeitslosigkeit, sind nicht über Nacht verschwunden. Gibt es hier schon Pläne, Ideen?

Jürgen Theres: Die größte Herausforderung sind im Moment die wirtschaftlichen Probleme. Die verschwinden nicht mit der neuen Regierung, sondern werden im Gegenteil immer größer. Der Anteil der Jugendlichen an der Gesellschaft ist signifikant gewachsen. Das eint jene arabischen Länder, deren Bevölkerungen jetzt aufbegehren. In Tunesien sind 42 Prozent unter 25 Jahre alt, in Ägypten 50 Prozent. Jede Regierung hat ein Riesenproblem damit, für diese Leute Arbeit zu finden. Da herrscht ein ungeheurer Druck.

Die Übergangsregierung wird nur ein halbes Jahr bestehen. Die wird also nur versuchen, eine Basis und die ersten Weichenstellungen für eine funktionierende Demokratie zu schaffen. Ihr wird es kaum gelingen, die ökonomischen Probleme anzugehen. Sie muss sich zwar trotzdem darum bemühen. Aber die meisten Unternehmen funktionieren ja zum Glück. Das große Problem ist die brachliegende Tourismusindustrie, denn hier sind sehr viele Menschen beschäftigt. Die stehen jetzt auf der Straße und sind arbeitslos.

derStandard.at: Die tunesische Zeitenwende hat vor allem Frankreich bloßgestellt. Paris hat Ben Ali wie kein anderer Staat in Europa unterstützt und bis in die Europäische Union hinein für seine Anerkennung als wirtschaftlicher und politischer Partner gesorgt. Was könnte Europa jetzt tun?

Jürgen Theres: Das ist eine ganz wichtige Frage. Europa sollte nicht nur beobachten, sondern auch etwas tun, denn hier ist eine demokratische Revolution im Gange, die in der arabischen Welt einzigartig ist. Hier werden außerdem von der Jugend Werte verfolgt, die sehr europäisch sind: Demokratie, Wohlstand, Freiheit. Das sollten die Europäer mit voller Kraft unterstützen. In Tunesien waren niemals die Touristen gefährdet, selbst in den kritischsten Momenten. Sie wurden vom Militär immer gut bewacht. Das Land ist wieder völlig befriedet und ruhig. Es gibt zwar einige Demonstrationen in der Innenstadt von Tunis, aber die sind harmlos. Alle, die sich für die Demokratie engagieren, sollten ihren Urlaub in Tunesien buchen. Man kann man den Tunesiern am besten helfen, indem man ihnen faire Verdienstmöglichkeiten und faire Exportchancen gibt. Das muss Europa unbedingt für die Revolution tun.

derStandard.at: Hat das Land die politischen Köpfe für einen Neuanfang? Haben sich die Oppositionsparteien überhaupt etablieren können?

Jürgen Theres: Der Nebel der Revolution liegt noch über dem Land. Es gibt verschiedene Strömungen. Aber Ben Ali und auch die Destour-Partei, die quasi eine Einheitspartei war, haben es geschafft, fast alle Ansätze der Bildung von politischen Parteien zu zerschlagen. Nun wird diskutiert, in welcher Formation sich die wichtigsten Kräfte des Landes aufstellen sollen. Es gibt erste Ansätze, aber es ist noch nichts entschieden, dafür war bisher schlicht die Zeit zu kurz.

Die Minister, die schon in der alten Regierung waren, die Ben-Ali-Minister, sind gemäßigte und versuchen jetzt, sich in einer neuen konservativen Partei wiederzufinden. Die alten Köpfe sind zwar verbraucht, werden also zwar teils von der Bevölkerung abgelehnt, aber ich denke schon, dass es zu einer stabilen neuen konservativen Partei kommen wird. Ebenso auf der linken Seite hoffentlich, damit nach den Wahlen eine stabile Regierung zustande kommt.

derStandard.at: Wann rechnen Sie mit Wahlen?

Jürgen Theres: Das kann man noch nicht genau sagen. Derzeit schaut es so aus, als könnte sie im Juni stattfinden, aber diese Frage ist noch nicht endgültig entschieden. Die Verfassung sieht eigentlich nach spätestens 60 Tagen Neuwahlen vor. Allerdings ist das derzeit unmöglich. Tunesien ist ein sehr legalistisches Land und will den Neuanfang nicht mit einem Verfassungsbruch beginnen. Deswegen hat man den Ausnahmezustand verlängert und solange dieser Ausnahmezustand herrscht, läuft diese Frist nicht.

derStandard.at: Nach 22 Jahren im Exil kehrte der Islamistenführer Rachid Ghannouchi, Mitbegründer der Partei Ennahda ("Erneuerung"), vergangenes Wochenende heim. Die unter Ben Ali verbotene Partei, die bei den bisher ersten und letzten halbwegs freien Wahlen 1989 rund 15 Prozent der Stimmen bekommen hat, hat die Wiederzulassung beantragt. Wie stark ist die Ennahda heute?

Jürgen Theres: Das ist zum derzeitigen Zeitpunkt schwierig zu sagen. In der Gesellschaft ist sicher ein gewisses Bedürfnis da, islamische Werte im öffentlichen Leben stärker repräsentiert zu sehen. Aber Ghannouchi sich darüber im Klaren, dass in einem modernen Land wie Tunesien, wo etwa die Frauen schon in der dritten Generation sehr frei und unabhängig sind, eine islamistische Partei, die die üblichen Konzepte predigt, keine Chance haben kann. Deswegen hat Ghannouchi, der ein sehr intelligenter Mann ist, entschieden, nicht selbst aufzutreten, sondern stattdessen einen relativ unverdächtigen, wahrscheinlich älteren Mann vorzuschieben, der islamistischem Gedankengut durchaus nahesteht, aber nicht vehement vertritt. Die Zielrichtung ist trotzdem klar, denn jede politische Partei versucht ihre gesellschaftlichen Konzepte durchzusetzen. Ich glaube, dass Ennahda eine wichtige politische Rolle spielen wird. Und es wäre falsch, diese Bewegung vollkommen aus dem politischen Prozess auszugrenzen, denn dann würde diese Bewegung gegen die Demokratie agieren und das wäre sicher schlecht.

derStandard.at: Der Ennahda-Generalsekretär Hamadi Jabali verspricht, weder das islamische Recht einführen zu wollen noch auf eine islamische Verfassung zu setzen. Islamismus-Angst sei eine "Psychose" in Europa. Wie sehr kann man den moderaten Worten trauen?

Jürgen Theres: Das ist schwer zu sagen, aber ich komme immer mehr zu der Erkenntnis, dass ein rein laizistischer Staat, so wie er etwa in Frankreich als Vorbild besteht, in Nordafrika keine Chance mehr hat. Es gibt einfach ein Bedürfnis danach, eine „ethische Referenz" einzuführen. Ebenso wie für viele Christen in Europa auch das Christentum von großer Bedeutung ist. Ghannouchi betont immer wieder das türkische Modell der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und sagt, dass das Ziel eine demokratische Partei sei, in der aber auch islamische Grundsätze stärker respektiert werden. Inwieweit die Moderaten dann den Radikalen unterliegen könnten, kann man aber jetzt nicht sagen.

Ben Ali hat seine Macht immer damit legitimiert, dass er gegen die Islamisten kämpft, die sonst das Land zerstören würden. Das war so sicher nicht der Fall. Die Europäer müssen damit entspannter umgehen und sie müssen auch die politische Entscheidung der Bevölkerung, wenn sie für eine gemäßigte islamische Partei in der nächsten Regierung stimmt, akzeptieren.

derStandard.at: Was in Tunesien passiert ist, war keine islamistische Revolution und keine mit dem Ziel einer Militärdiktatur. Bis auf die Ausnahme der Türkei waren das bisher die beiden denkbaren Formen des Wandels in der islamischen Welt. Wird sich etwas Eigenes, etwas Drittes entwickeln?

Jürgen Theres: Das wäre zu hoffen. Die Islamisten hatten im Vorfeld der Revolution auf den Schwager des Präsidenten gesetzt, der als Nachfolger von Ben Ali auserkoren war, und hatten gehofft, sich mit ihm zusammen an die Macht zu schleichen. Sie haben in der gesamten Bewegung also keinerlei Rolle gespielt. Der starke Mittelstand und die gebildeten Schichten werden sich massiv dagegen wehren, dass die Islamisten auch in Zukunft eine tragende Rolle spielen.

derStandard.at: Wie wird in Tunesien der Aufstand in Ägypten aufgenommen?

Jürgen Theres: Die Menschen freuen sich ungemein, nachdem sie selbst so lange durch das Ben Ali-Regime erniedrigt worden sind. Sie haben dieses Regime als Beleidigung für das gebildete Tunesien begriffen. Jetzt sind sie sehr stolz darauf, dass diese Bewegung als Beispiel für viele Jugendliche dient, ungerechte Verhältnisse und mangelnde Perspektiven in ihrem Leben einfach nicht mehr hinzunehmen. Und sie hoffen natürlich darauf, dass die Bewegung in Ägypten nicht degeneriert, also dass die demagogischen Kräfte nicht die Überhand gewinnen. Das stellt in Ägypten eine größere Gefahr dar als in Tunesien, weil der Anteil der gebildeten Bevölkerung dort erheblich geringer ist. (fin, derStandard.at, 1.2.2011)