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Empörung so weit das Auge reicht.

Foto: dpa/Norbert Försterling

Mit seinem Pamphlet "Indignez-vous!" (Empört euch!) sorgt der einstige französische Widerstandskämpfer, KZ Buchenwaldüberlebende und Mitverfasser der Menscherechtserklärung von 1948 Stéphane Hessel derzeit für Aufregung. Im Oktober 2010 wurde das 32-Seiten-Heftchen erstmals veröffentlicht. Bis Jänner 2011 wurden 500.000 Exemplare verkauft. Die deutsche Übersetzung wird für Mitte Februar erwartet. (derStandard.at berichtete)

In seinem nicht unumstrittenen Werk erklärt der 93-Jährige: "Wir alle müssen darüber wachen, dass unsere Gesellschaft eine Gesellschaft bleibt, auf die wir stolz sein können." Und weiter: "Ich wünsche jedem Einzelnen von ihnen ein eigenes Empörungsmotiv. Denn das ist kostbar. Wenn etwas Sie empört, wie mich der Nazismus empörte, werden Sie militant, stark und engagiert."

"Werden Sie militant" ist nicht als Aufforderung zur Gewalt zu verstehen, vielmehr sagt er: "Gewaltlosigkeit ist ein sicheres Mittel, der Gewalt ein Ende zu setzen". Auch darüber, wie man ein Empörungsmotiv findet, hat er sich Gedanken gemacht: "Die Welt ist groß und wir spüren deutlich, wie sehr die Dinge miteinander verschränkt sind. Aber in dieser Welt gibt es Dinge, die unerträglich sind. Wer sie sehen will, muss genau hinsehen. Ich sage den jungen Leuten: Wenn ihr nur ein wenig sucht, werdet ihr solche Dinge finden. Am schlimmsten ist es, wenn man sagt: "Damit habe ich nichts zu tun. Das ist mir egal."

derStandard.at hat bei österreichischen Jugendorganisationen nachgefragt, worüber Sie sich am meisten empören und gleich um einen Lösungsansatz gebeten.

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Rodaina El Batnigi, Vorsitzende der Bundesjugendvertretung

Als gesetzliche Interessenvertretung von Kindern und Jugendlichen in Österreich empört uns die breite jugendpolitische Ignoranz. Es gibt zwar immer wieder Gespräche mit PolitikerInnen, aber schaut man sich konkrete politische Vorgänge an, bleibt die Stimme der Jugend immer wieder außen vor. So bringt die jüngste Budgeterstellung massive Einschnitte für junge Menschen mit sich.

Auf die Missstände, die es für Kinder und Jugendliche gibt, weisen wir schon seit Jahren hin: Wir nehmen nicht hin, dass es immer noch keine gleichen Bildungschancen gibt, dass 77.000 Jugendliche keinen Job haben und 250.000 Kinder in Österreich von Armut bedroht sind oder in Armut leben. Hier ist die Politik gefragt. Sie muss nicht nur an die Zukunft, sondern an die Gegenwart von jungen Menschen denken. Letztendlich gibt es auch in Österreich immer wieder einen Aufschrei von jungen Menschen - schaut man sich die SchülerInnen-, StudentInnendemos und Proteste gegen das Budget an. Die Jugend meldet sich zu Wort, sie muss nur gehört werden!

Jürgen Michlmayr, Vorsitzender der Österreichischen Gewerkschaftsjugend

Ich bin empört, wenn kleinen Kindern Entscheidungen aufgezwungen werden, die ihr Leben bis ins Pensionsalter bestimmen, ohne dass sie darauf selbst irgendeinen Einfluss haben. Sie können sich nicht aussuchen, in welchem Fluchtland sie ihre Eltern aufziehen, trotzdem werden sie abgeschoben. Oder wenn Zehnjährigen vorgeschrieben werden muss, ob sie in die Hauptschule oder ins Gymnasium gehen. Also müssen wir endlich was dagegen tun, dass nur Hochgebildete ihre Kinder in die Gymnasien schicken, und dagegen, dass nur Wohlhabende ihre Kinder mit teurer Nachhilfe pushen. Die Lösung: Gemeinsame Schule statt Entscheidung, ganztägige Schule statt Nachhilfe. Und zwischen Lehre und schulischer Ausbildung muss man leichter wechseln können, denn die Lehre ist keine Ausbildung zweiter Klasse.

Katholische Jugend Österreich

Uns als Katholische Jugend Österreich empört, dass auch im europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit das freiwillige Engagement Jugendlicher zu wenig wertgeschätzt wird. Die politische und gesellschaftliche Anerkennung für freiwillige Arbeit Jugendlicher lässt stark zu wünschen übrig. Die finanziellen und sozialen Anreizsysteme sind völlig unzureichend: Keine vollständige Sozialversicherung, keine Anrechenbarkeit von erworbenen Qualifikationen, kein angemessenes Taschengeld, Verlust der Familienbeihilfe. So gibt es immer noch keine gesetzliche Verankerung der Freiwilligendienste sowie unzureichende finanzielle und soziale Anreizsysteme. Bezugnehmend auf die aktuelle Diskussion rund um die Einführung eines Freiwilligen Sozialjahres ist zu sagen: Der Freiwilligendienst soll in erster Linie den Jugendlichen etwas bringen und dient nicht dazu, durch billige Arbeitskräfte das österreichische Sozialsystem am Laufen zu halten.

Josef Wimmer, Stellvertretender Geschäftsführer der Österreichischen Jungarbeiterbewegung

Uns empört, dass in Österreich und international junge Menschen nicht die gleichen Chancen haben, Bildung und Ausbildung zu erhalten und dadurch ein erfülltes, sicheres Leben führen zu können. Gründe dafür sind regionale, nationale und globale Verteilungsungerechtigkeiten, aber auch Staatsangehörigkeit beziehungsweise Geburtsort, religiöse und politische Zugehörigkeit und mangelnde Integration von Menschen mit Benachteiligungen und Behinderungen. Uns empören die Grenzen, die die Menschen einander in diesen Bereichen setzen. Deswegen ignoriert die ÖJAB diese Grenzen. Unsere Angebote als Jugendorganisation und gemeinnützige, sozial orientierte Heimträgerorganisation stehen allen jungen Menschen offen. Wir bieten ihnen Chancen auf Bildung: in Österreich durch leistbare Wohnheime am Ausbildungsort sowie durch Jugendprojekte und Berufsausbildungskurse. International durch Jugendaustausche, Flüchtlingshilfe und Entwicklungszusammenarbeit.

Michael Wilim, Bundesobmann  des Mittelschüler Kartellverbandes

Das österreichische Schulsystem muss nicht nur reformiert sondern auch verbessert werden.  Vor allem die Forderung nach Weiterentwicklung der Hauptschulen zu flächendeckenden "Neuen Mittelschulen" ist für den Mittelschüler Kartellverband ein zentrales Thema. Die Unterstufe der AHS verkommt sukzessive zur "Restschule" aller leistungsschwachen Schüler. Diese Entwicklung, die besonders in den städtischen Ballungszentren, allem voran Wien, bereits weit vorangeschritten ist muss gestoppt werden. Die vom MKV vertretene Durchlässigkeit des Schulsystems stellt außerdem sicher, dass die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg bis zum 14. Lebensjahr offen bleiben kann. Jeder leistungsbereite aber auch geeignete Schüler soll die Möglichkeit haben, in eine der verschiedenen Oberstufenformen überzutreten und so die Matura zu erlangen

Sozialistische Jugend

Uns empört, dass sich Menschen mit ungerechten Gesetzen und Zuständen einfach abfinden. Dass sich Menschen mit Armut, Arbeitslosigkeit und Abschiebungen einfach abfinden. Uns empört, dass sich Menschen damit abfinden, dass die Mehrheit durch eine kleine Minderheit ausgebeutet wird. Auch empört uns die Durchdringung aller Lebensbereiche mit betriebswirtschaftlicher Logik. So wird Bildung zur reinen Ausbildung, nur noch eine kleine Elite kann sich Spitzenbildung leisten und alle versuchen, schnellstmöglich und mit Scheuklappen durch Schule und Studium zu kommen. So hält auch in Schule und Studium die Mentalität einer unsolidarischen Ellenbogengesellschaft Einzug. So wird Gesundheit zu einem Privileg für die Oberschicht - Arme bleiben auf der Strecke. So wird Infrastruktur weggespart - etwa der öffentliche Verkehr, was vor allem auch der Umwelt schadet.

Und es empört uns, dass Arme ärmer und Reiche reicher werden, der Wohlstand immer ungleicher verteilt ist und der Profit von Wenigen mehr zählt als die Bedürfnisse der Gemeinschaft. Am Wichtigsten ist: sich organisieren und dagegen auftreten. Nicht demütig alles hinunterschlucken, sondern aktiv werden.

Pfadfinder und PfadfinderInnen Österreichs

Ist es nicht unglaublich, dass die österreichischen Jugendleiter und Jugendleiterinnen der Pfadfinder, aber auch sämtlicher anderer Kinder- und Jugendorganisationen, in der Diskussion um die Freiwilligentätigkeit nicht genug Beachtung bekommen? Es sollten finanzielle und steuerliche Anreize für Unternehmen geschaffen werden, die ehrenamtliche Kinder- und JugendeiterInnen beschäftigen, damit ehrenamtliche JugendleiterInnen nicht nur ihren Urlaub für ihr Freizeitengagement verwenden. Denn sie leisten einen wertvollen Beitrag für den Staat und die Familien.

Junge Europäische Föderalisten

Was die Jugendlichen im Bund Europäischer Jugend empört, ist, dass bei der Lösung von Problemen mit denen wir uns als Gesellschaft im 21. Jahrhundert konfrontiert sehen, selten über den Tellerrand geblickt wird. In vielen globalen Bereichen wie Umweltschutz und Armutsbekämpfung fehlt manchen Politikern der Idealismus. Allen soll es besser gehen, Ungerechtigkeiten gehören abgeschafft. Die jungen Menschen wollen nicht gegeneinander aufgehetzt werden, sondern gemeinsame Lösungen.

Luis Töchterle, Alpenvereinsjugend

Herr Hessel hat natürlich vollkommen recht. Oft genug ist es unerträglich in einem Meer von Gleichgültigkeit leben zu müssen. Und gleichzeitig hat er vollkommen unrecht. Denn es ist unmöglich, mit akut Empörten an langfristig tragfähigen Lösungen zu arbeiten. Es gibt viele, die sich hervorragend empören. Mich wundert schon lange, dass die Psychologie den Empörungstrieb, der leicht ins Pathologische wachsen kann, noch nicht identifiziert hat. Je älter ich werde, um so mehr bemühe ich mich, zu meinen aufkommenden Empörungen auf kritische Distanz zu gehen und klare Sicht zu gewinnen. Denn hier irrt der Herr Hessel: Genau hinsehen und sich empören passen nicht zusammen. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 8. Feber 2011)