Eine Wette. Einer hat gewonnen. Ein anderer verloren. Der Einsatz: eine Kiste Sekt. Worum es ging? Um nichts weniger als ein Menschenleben.

Diese Wette ist zehn Jahre alt. Abgeschlossen wurde sie damals auf einem Gendarmerieposten irgendwo in einem Voralpendorf in Österreich. Draußen schwarze Nacht, drinnen Linoleum, Neonsonne, ein müder Gendarm und ein noch müderer Mann. Daneben eine aufgekratzte Dreizehnjährige.

Frech und kokett

Dürr, kohlrabenschwarze Haare, dunkle Augen. Aufsässig, frech und bis zum Anlassigen kokett zugleich. Und immer bereit, wegzulaufen, abzuhauen, den Erwachsenen den ausgefahrenen Mittelfinger mitten ins Gesicht zu strecken, ihnen mit entblößtem Hintern zu zeigen, was sie von ihnen hielt, nämlich gar nichts.

Dreizehn Jahre Hass, drei Dutzend Kilo Verächtlichkeit, in die sehnige Energie eines kraftvollen, intelligenten Kindes verpackt - und irgendwo, sehr gut verborgen, ganz viel Angst, Schmerz, Verzweiflung und eine andere Art von Müdigkeit, von der wir "normalen" Menschen nie eine Ahnung haben werden.

Vergessen Sie dieses Kind

Aus der, winkte der Gendarm resigniert ab, wird nichts mehr. Warum tun Sie sich das alles an? Warum holen Sie sie immer wieder zurück? Vergessen Sie dieses Kind. Die Kleine schaute den anderen, noch müderen Mann herausfordernd an. Man hatte sich erfrecht, diesen Typ zu ihrem Pflegevater zu ernennen, man hatte ihm damit Rechte über sie eingeräumt - über sie, die sie doch beschlossen hatte, sich von niemandem bis auf einen auch nur irgendetwas sagen oder gar anschaffen zu lassen. Sie selbst, das war sie, die Frau. Die Erwachsene in Kindsgestalt. Und jetzt wollte der, dass sie "nach Hause" komme. Lächerlich.

Diese Erwachsenwerdung war schlagartig erfolgt, zwei Jahre zuvor, im Gebüsch am Straßenrand. Dort war die Elfjährige von einem 27-jährigen Freund der Familie erst harmlos verführt und dann vergewaltigt worden, und das Wissen darum teilte sie mit niemandem. Nur mit ihrem Vergewaltiger selbst. Das Unerhörte wurde zu einem geheimen Bündnis, zu einem schauerlichen Pakt der Macht, und irgendwie blieb sie an ihm hängen, denn da war sonst nichts, an das man sich hätte hängen können, und die Angst kann ein mächtiger Verwalter eines Menschenlebens sein.

Familie

Die Familie: nicht ganz schlecht situiert, doch zerrüttet. Der Stiefvater kein Alkoholverächter, die Mutter resigniert, schließlich auch dem Trunke zugeneigt. Die Beziehung zur eigenwilligen Tochter schon seit Jahren kraftlos. Also keine Hilfe für das ohnehin einsame und vernachlässigte Mädchen von dieser Seite zu erwarten.

Stark war nur er, der Mann, der mit ihr das gemacht hatte, was normalerweise nur Erwachsene tun. Und der kostete sein Macht über das Kind aus, machte sich die Elfjährige gefügig, beschützte sie, gab ihr einen Stellenwert in seiner Gesellschaft als "sein Mädchen", verprügelte sie, nahm sie bei sich auf, ließ sie die Wohnung putzen, und wenn sie dann, später, nicht freiwillig tat, was er von ihr wollte, nötigte er sie. Wieder und wieder.

Wachstube

Jetzt, wie sie da so in der Wachstube saß, abgeklärt und arrogant, hatte sie zwei Jahre dieser Existenz hinter sich. Zwei Jahre ohne Schule, ohne Eltern, zwei Jahre Flucht vor den Behörden, die selbstverständlich bald hellhörig geworden waren und die Gespräche mit der Mutter und der Tochter geführt und andere in den Augen des Kindes läppisch sinnlose Aktionen gestartet hatten. Denn geblieben war sie nirgends. Geflüchtet war sie immer, und zwar zu ihm.

Der noch müdere Mann in der Wachstube schaute das Kind an, schaute den Gendarmen an und sagte dann: Was Sie jetzt daherreden, ist mir wurscht. Irgendwann, und wenn es noch so lange dauert, wird dieses Kind wieder Kind sein. Es wird in die Schule gehen, es wird seine Aufgaben machen, es wird mit Gleichaltrigen spielen, es wird Respekt vor anderen haben, und es wird schließlich irgendwann auch wieder Respekt vor sich selbst haben. Darum wette ich, wenn Sie wollen. Um eine Kiste Sekt.

Pflegeeltern

Die Station bei diesen Pflegeeltern war die letzte auf einem langen Weg diverser Bemühungen. Die Jugendwohlfahrt hatte in den zwei Jahren davor alles Menschenmögliche versucht. Da hatte es verschiedene Heime gegeben, in die man die Kleine gesteckt hatte, Heime, aus denen sie noch am selben Tag abgehauen war. Und andere Heime, solche für Schwer-und Schwersterziehbare, mit hohen Mauern und festen Schlössern, mit Nonnen, Sozialarbeitern und Erziehern. Aber nichts hatte dieses Kind halten können, überall war sie durchgeschlüpft, drübergeklettert, immer war sie bei der ersten Gelegenheit weggelaufen, und meistens zu ihm.

Irgendwann auch Resignation der zuständigen Behörden, ein Warten darauf, dass sie älter werde, dass das, was geschieht, in den Rahmen der Legalität wachse. Denn alle Anzeigen wegen Unzucht mit einer Minderjährigen lösten sich in nichts als Aktenpapier auf, in dem nachzulesen war, dass die Kleine keine Aussage machen wolle.

Würde

Warum eigentlich, fragt man sie heute, warum deckt man denjenigen jahrelang, der einem die Würde raubt, einem auf entsetzliche Art und Weise immer wieder wehtut? Weil man das zu diesem Zeitpunkt nicht erkennt, sagt sie, weil Schande, Schmerz, Verzweiflung und Angst einen Cocktail mischen, der in eine diabolische Abhängigkeit führt, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Wer das Wechselbad totaler Hitze und totaler Kälte gelebt hat, findet sich in der lauen Normalität nicht mehr zurecht. "Ein Kind", sagt der Pflegevater, "kann man total willenlos machen, bis hin zu einem Zustand, in dem es nichts mehr spürt."

Was Jugendwohlfahrt, Heimerzieher und Nonnen vergeblich versucht hatten, nämlich das Mädchen in genau diese Normalität zurückzuholen, nahmen nun die neuen Pflegeeltern abermals in Angriff. "Es schien eigentlich hoffnungslos." Aber die Wette galt. "Wenn ich heute daran zurückdenke, wie ungeheuer zynisch und abgebrüht es war, um ein Kind zu wetten, wird mir schlecht", sagt der Pflegevater.

Pflegevater

Ihm stand ein zehrendes halbes Jahr bevor. Das Mädchen haute ab, schneller, als man schauen konnte. "Ich habe sie bis zu dreimal pro Tag wieder heimgeholt. Sie ist bei der Vordertür hinein, bei der Hintertür wieder hinaus." Der Pflegevater lernte bald die Lokale und Waldstücke kennen, in denen sie sich herumtrieb. Er lernte die Gendarmen der weiteren Umgebung kennen, die sie immer wieder aufgriffen und mit denen sie in ihrer frechen herausfordernden Art zum Teil schon bald per du war. Er lernte auch den Mann kennen, zu dem sie immer wieder zurückkehrte, weil er drohte, er werde sie umbringen, wenn sie nicht komme.

"Ein muskelbepackter Riese. Eigentlich gar nicht unsympathisch, aber ungeheuer brutal, jähzornig und unberechenbar, wenn er nur ein wenig Alkohol getrunken hatte." Einer, der zum Beispiel sein Moped mit der Motorsäge auseinander schnitt, weil ihn irgendetwas in Rage gebracht hatte.

Ort ohne Gewalt

Die Pflegeeltern wussten, dass sie nur mit dem Gegenteil dessen, was das Kind erwartete, an es herankommen würden. Plötzlich war da ein Ort ohne Gewalt, plötzlich waren da Leute, die nicht schlugen, wenn Regeln übertreten wurden - und plötzlich bekam man Zuneigung, auch ohne den Körper dafür hergeben zu müssen.

Das erste Signal aus dieser gepeinigten Kinderwelt nach draußen kam nach drei Monaten und ungezählten Ausrissen. Ein Telefonanruf mitten in der Nacht: "Ich weiß, ich sollte schon zu Hause sein. Gehe ich euch nicht ab?" "Doch. Wir kommen und holen dich." Ab dem Moment wussten die Pflegeeltern, dass sie das Mädchen irgendwie erreicht hatten, dass die Hülle löchrig wurde, dass diese Kindfrau einen anderen Weg sah, auf dem sie auch würde gehen können. Und sie ging ihn. Schritt für Schritt, mit vielen Rückschlägen, mit manchem Erfolg.

Lebensrettung

"Diese Leute haben mein Leben gerettet", sagt sie heute, "wenn sie nicht gewesen wären, würde ich jetzt auf den Strich gehen oder Drogen nehmen. Vielleicht wäre ich überhaupt schon tot."

"Wir haben sie damals einfach dazu gezwungen, uns kennen zu lernen: Schau uns an, hör uns zu, spür uns. Immer wieder. Wir haben ihr ein weiches Leben gemacht, und wir haben ganz langsam über viele Monate hinweg Vertrauen aufgebaut, Vertrauen gewonnen. Erst als eine Beziehung zwischen uns da war, konnte so etwas wie Erziehung beginnen, erst dann spielt man eine Rolle im Leben eines anderen Menschen."

Als sie etwa vierzehn Jahre alt war, hörte sie auf wegzulaufen. Und sie schaute nicht mehr weg, wenn sie an einem Spiegel vorbeiging. Sie begann vielmehr, sich selbst zu sehen. "Wir wussten, dass wir gewonnen hatten, als sie damit anfing, sich hübsch zu machen, und zwar nur für sich selbst und für niemanden sonst. Sie hat sich als Mensch gespürt, hat wieder zu leben begonnen. Vorher war sie niemand gewesen."

Hörigkeit

Der Mann, der sie in die Hörigkeit des Missbrauchs getrieben hatte, versuchte alles, um an sie heranzukommen. Über Details der Jahre mit ihm hatte sie nie mit der neuen Familie gesprochen, doch irgendwann war die Sicherheit stark genug, um alles loswerden, ausspucken, auskotzen zu können. Eines Tages die flehentliche Bitte: "Macht's was!" Die Behörden bekamen das Protokoll, auf das sie so lange gewartet hatten, in Summe beliefen sich die Delikte auf zehn Jahre Haft.

Das Mädchen, das zwei Jahre lang nicht zur Schule gegangen war, schaffte den Abschluss des Polytechnikums, schaffte die Lehre, kippte in ein anderes Extrem. Sie legte Sparbücher und Bausparverträge an, gierte nach Lob von außen, nach Lob aufgrund von endlich selbst erbrachter Leistung, hatte nie einen Freund. Im Gegenteil. Mit Nettigkeiten von Männern konnte die sehr aparte junge Frau jahrelang nicht umgehen, vor Freundlichkeiten fürchtet sie sich. Wenn einer harmlos fragte, ob er sie zu etwas einladen dürfe, drehte sie sich wortlos um und ging.

Erster Freund

Mit 19 dann doch ein erster Freund. Wieder einer, der sie schützt, pflegt, ihr Sicherheit gibt, ein netter Mann, allerdings. Einer, mit dem sie unbedingt ein Kind haben will, jetzt, sofort. Die Pflegeeltern sind skeptisch, da sei noch viel, was sie aufholen, sozusagen nachleben müsse. "Aber sie wollte sich unbedingt selbst beweisen, dass ihr früheres Leben nichts kaputt gemacht hat, dass davon nichts zurückgeblieben ist", wagt der Pflegevater eine Interpretation. Der Gynäkologe hatte schon Jahre zuvor schwere Unterleibsschäden festgestellt, verbrochen an einem zu jungen, zu unausgereiften Kinderkörper. Dieses Ziel, das Kind, erreicht sie erst ein paar Jahre und ein paar Fehlgeburten später. Und mit diesem Kind erreicht sie selbst ein endgültig neues Leben.

Ein rundes Baby, eine junge Frau, eine pieksaubere kleine Wohnung, zwei Katzen, das Familienfoto zu dritt in Plakatgröße an der Wand. In ein paar Wochen die Hochzeit. Bis zur Torte, zum Kleid, zu den Farben der Blumensträuße - alles durchgeplant wie ein Staatsbankett, alles wunderbar schilderbar. Über die Vergangenheit zu reden fällt schwerer. Das sei alles vorbei, daran denke sie doch schon so lange nicht mehr, das sei ein anderes Leben gewesen.

Flucht

Und dennoch wieder die Frage, warum sie sich jahrelang habe missbrauchen lassen, warum sie nicht schon viel früher die Flucht ergriffen habe. Angst, sagt sie nur. Todesangst. Und kein Weg in Sicht, der irgendwie da raus führen könnte.

Die Vergangenheit bleibt ausgeblendet. Sie ist da, sie wird sorgfältig weggesperrt, doch immer noch reicht schon eine zufällige flüchtige Begegnung mit der Schwester des Mannes im Supermarkt aus, um Risse in diese heile Welt zu reißen, die sich nur langsam wieder schließen.

"Wann trinken wir eigentlich den Sekt?", fragt sie den Pflegevater herausfordernd. Er habe die Wette schließlich gewonnen, oder? (Ute Woltron, DER STANDARD Printausgabe 10/11.5.2003)