Frankfurt - Die Haltung des Westens gegenüber den Vorgängen in der arabischen Welt wird in zahlreichen Pressekommentaren vom Freitag einer schonungslosen Kritik unterzogen:

"die tageszeitung" (TAZ) (Berlin):

"Nach langen Jahren, in denen die europäischen Mächte und die EU die arabischen Gewaltherrscher unterstützten und sich ausschwiegen angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen, ist jetzt hektische Aktivität ausgebrochen. (...) Die fünf Kernmächte der EU verurteilten jede Gewaltanwendung in Ägypten, traten für das Demonstrationsrecht ein und verlangten von dem Militär, dieses Recht zu schützen. Zu wenig, zu spät. In den Augen arabischer Demokraten haben die europäischen Mächte und die EU jede Glaubwürdigkeit in Sachen Menschenrechte eingebüßt. Wo in den vergangenen Jahren seitens der Europäer Menschenrechte postuliert und - wie im Fall der nordafrikanischen Maghreb-Staaten - in Vertragswerke mit der EU niedergelegt wurden, blieben sie auf dem Papier. Notorische Gewalttäter wie - noch wenige Wochen vor Beginn des Aufstands - Tunesiens Zine el-Abidine Ben Ali wurden Lieblingskinder der EU. Und Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle - ganz sicher in Übereinstimmung mit der EU - lobte Mubarak als einen 'Mann enormer Erfahrung, großer Weisheit, der die Zukunft fest im Blick hat'. Wo immer die EU für ihre Mitgliedsländer zentrale Positionen in Stellung bringt - Abwehr der Flüchtlinge an den Mauern der Festung Europa, Sicherung der Energiequellen -, überall ist ihr jeder Gewaltherrscher recht, soweit er Stabilität zu verbürgen scheint. Es ist dieser Fetisch Stabilität, für den die EU jetzt die Quittung erhält."

"Neue Zürcher Zeitung" (NZZ):

"Das amerikanische Engagement widerspiegelt sich deutlich in der Bewaffnung der ägyptischen Streitkräfte. Armee, Luftwaffe und Marine sind heute in Ausrüstung und Doktrin stark vom amerikanischen Einfluss abhängig. (...) Interessant ist freilich, dass die ägyptische Armee zwar über zwei Brigaden mit ballistischen Raketen verfügt, dass deren Material aber ausnahmslos aus veralteten Frog- und Scud-Missilen besteht, unter denen es auch nordkoreanische Weiterentwicklungen gibt. Man geht kaum fehl in der Annahme, dass der westliche Wille zur Aufrüstung Ägyptens vor modernen Lenkwaffen haltmacht, weil diese eine direkte Bedrohung Israels darstellen könnten. Die ägyptischen Streitkräfte zeugen exemplarisch von der strategischen Umpolung des Landes von einer ehemals sowjetisch-panarabisch geprägten Einflusszone weg in den westlichen Interessenbereich. Die Einbindung Ägyptens in die westliche Sicherheitssphäre stellte einen diplomatischen Erfolg ersten Ranges dar, hat aber auch eine beträchtliche Verantwortung gegenüber der inneren Entwicklung des Landes mit sich gebracht. Dieses Engagement könnte durch den Aufstand gegen Mubarak auf eine harte Probe gestellt werden."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ):

"Die Umwälzungen am südlichen Gegenufer des Mittelmeers müssten ein Weckruf für Europa sein. Nachdem die europäischen Hauptstädte und EU-Brüssel ihre erste Überraschung und das darauffolgende Zögern überwunden haben, wird nun zu einem geordneten, gewaltfreien Übergang zu einer neuen Regierung in Ägypten aufgerufen. Man kann nur hoffen, dass Hosni Mubarak, das Militär sowie die Demonstranten und Gegendemonstranten in Kairo darauf hören. Doch das ist bestenfalls ein erster Schritt zu einer Mittelmeerpolitik. (...) An großen Worten hat es nie gefehlt: Zeitweise war von einem Marshall-Plan für das Mittelmeer die Rede. Sicherlich wird zur Stabilisierung dieses Raumes auch Geld aus Brüssel notwendig sein. Aber vordringlich ist es, den südlichen Anrainern den Zugang zum europäischen Binnenmarkt weiter zu öffnen, damit ihre Volkswirtschaften den natürlichen Raum zu ihrer Entfaltung finden. Die nordafrikanischen Staaten müssen ihren Bürokratismus und die Korruption bekämpfen, um den Investoren aus dem Norden bessere Bedingungen zu geben. Nur im Aufeinanderzugehen ist zu verhindern, dass die Probleme Nordafrikas nach Europa importiert werden."

"Süddeutsche Zeitung" (München):

"Die Europäer befürchten, dass die Länder in Nordafrika im Chaos versinken könnten - doch sie haben wenig Einfluss auf die Entwicklung. (...) Wie US-Präsident Barack Obama musste auch Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel erfahren, dass der Herrscher Ägyptens zwar zuhört, aber selbst gut gemeintem Rat nicht folgt. Vorerst jedenfalls nicht. An der Klarheit der Botschaft aus Europa kann das nicht liegen. Zu Beginn der Unruhen noch unsicher, forderten die Außenminister der 27 Mitgliedsländer dann am Montag unverhohlen das Ende des Systems Mubarak. Seitdem drängt die EU Kairo, einen 'geordneten Übergang' zu ermöglichen. Die Betonung der Europäer liegt dabei auf 'geordnet'. (...) Dass der ägyptische Präsident, der übrigens immer noch gemeinsam mit dem französischen Staatschef Nicolas Sarkozy der EU-Mittelmeerunion vorsitzt, die Zeichen der Zeit offensichtlich anders liest und auf Überlebenskampf setzt, bringt die Europäer nun in eine schwierige Lage. Versinkt der demokratische Aufbruch in einem gewalttätigen Chaos, dann ist das Risiko groß, dass der EU die südliche Nachbarschaft politisch mit unkalkulierbaren Folgen für die Sicherheit und die Wirtschaft im Mittelmeerraum wegbricht. (...) Viel Zeit haben die Europäer allerdings nicht, die richtigen Lehren aus der Entwicklung zu ziehen. Denn der Weg, den Tunesien, Ägypten und demnächst vielleicht auch Algerien einschlagen, beeinflusst sehr direkt auch das Schicksal Europas."

"Libération" (Paris):

"Dieses ägyptische Trauerspiel sagt viel über die Illusion einer geschlossenen Welt. Mubarak hat zuerst versucht, das Internet zu kappen. Dann hat er den Nachrichtensender Al-Jazeera verboten, dessen Bilder die Revolte in der ganzen arabischen Welt verbreiten. Schließlich hat er das Niederknüppeln von ausländischen Reportern befohlen. Er hat aber nicht an die Möglichkeiten der Technik gedacht. Die Nachrichten laufen wieder über den Bildschirm, Al-Jazeera hat einfach den Kanal gewechselt und nicht einmal sein Programm unterbrochen, und die ausländischen Medien machen trotz der enormen Behinderungen ihre Arbeit. Jeder kann also sehen, wie sich belastendes Material anhäuft, das an einem Tag in nicht allzu ferner Zukunft erlauben wird, über den Brandstifter Mubarak zu urteilen."

"La Stampa" (Turin):

"Wenn Hosni Mubarak fällt, dann werden die Militärs entscheiden, mit welchen Führern der Opposition es einen Dialog geben soll. Und sie werden garantieren, dass der Einfluss Washingtons weiterhin in höchstem Maße gegeben ist - es ist besser, nicht zu viel Stolz an den Tag zu legen angesichts von 1,3 Milliarden Dollar an jährlicher Hilfe aus den USA. Außerdem werden die Militärs dafür sorgen, dass an den Friedensvereinbarungen mit Israel nicht gerüttelt wird. (...) Die Tränen des Pharao werden jedenfalls auf Ägypten fallen: Der Sieger wird es mit einer schlimmen Wirtschaftskrise zu tun haben, mit einer riesigen Arbeitslosigkeit und Inflation. Viel wird von der Großzügigkeit der Freunde im Ausland abhängen. Doch auch diese werden etwas dafür verlangen."

"Corriere della Sera" (Mailand):

"Das wiederholte aggressive Vorgehen gegen Demonstranten und ausländische Journalisten wird - nach Einschätzung der Oppositionellen - von oben gelenkt. Das ägyptische Regime kopiert damit Regierungen, denen es in der Vergangenheit gelungen war, Volksaufstände zu ersticken: China, Burma, Iran. Um die Proteste zu unterdrücken, ist es notwendig, keine unbequemen Zeugen auf den Straßen zu haben, und ausländische Journalisten sind da das erste Ziel. Die Bilder der großen Fernsehsender und Reportagen werden von demjenigen als tödliche Gefahr gesehen, der auf dem Thron bleiben will." (APA/dpa/AFP)