Adrian Constantin in seinem Büro an der Wiener Universität: Ihn interessieren die Wechselwirkungen zwischen Strömungen, Druck und Wellen.

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STANDARD: Warum interessiert sich ein theoretischer Mathematiker wie Sie ausgerechnet für etwas so Konkretes wie Wasserwellen?

Constantin: Wasserwellen faszinieren mich, wenn ich in meiner Freizeit tauche. Dabei ist es spürbar, wie der Druck höher wird, wenn die Welle an der Oberfläche größer wird. Das kann man auch messen. Es gibt aber noch mehr Wechselwirkungen zwischen dem, was da ganz unten und was oben passiert, die nicht ganz so einfach erklärbar sind. Ich möchte verstehen, wie es zu solchen Phänomenen kommt.

STANDARD: Könnte man über derartige Wechselwirkungen auch Tsunamis vorhersagen?

Constantin: Vielleicht. Ich analysiere vorerst nur Phänomene, die zum Beispiel beim großen Tsunami im Jahr 2004 im Indischen Ozean aufgetreten sind. Das westlich vom Erdbeben liegende Indien wurde zuerst von einer hohen Welle heimgesucht. Zehn Minuten später kam eine zweite. Im östlich gelegenen Thailand zog sich das Wasser am Anfang zurück, es sank sogar sehr stark unter das unter normalen Umständen erreichte Niveau. Das konnte man damals über Bilder und Videos erkennen.

STANDARD: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Constantin: Ja. Wir entwarfen ein Modell, in dem wir das theoretisch analysiert haben, allerdings ohne Berücksichtigung von Strömungen. Die Form der Welle am Anfang war dafür verantwortlich: Westlich ein Wassertal, östlich ein Wasserberg, und diese ersten Merkmale blieben erhalten. Dadurch wurde in Thailand der Tsunami durch einen Wasserrücktritt angekündigt.

STANDARD: Haben Sie auch erforscht, wie sich das Wasser bei einer solchen Welle bewegt?

Constantin: Wasserpartikel bewegen sich immer in fast geschlossenen Kreisen. Zuerst geht es nach oben, dann nach unten und nach hinten. Sie können das beobachten, wenn sie eine Gummiente in der Strömung schwimmen lassen. Sie bewegt sich vor und nach oben und dann ein wenig rückwärts. Ein faszinierend einfacher Hinweis, finden Sie nicht auch?

STANDARD: Haben Sie während Ihrer Arbeit oft derartige Aha-Erlebnisse?

Constantin: In gewisser Weise schon, obwohl sie natürlich nicht so simpel zustande kommen. Es war weitaus komplizierter, natürlich zu erkennen, dass die Partikelbewegungen nicht in geschlossenen Kreisen ablaufen. Ich habe mit ungefähr 14 Jahren bemerkt, dass ich viele mathematische Fragen beantworten kann, wenn ich nur ein wenig Geduld habe. Und das obwohl ich in der Schule manchmal schlechte Lehrer hatte.

STANDARD: Welche Fragen sind das? Was reizt Sie an der Mathematik?

Constantin: Mathematik hat für mich eine selbstständige Schönheit, ist aber gleichzeitig ein Werkzeug, um Ursachen und Wirkung in den Naturwissenschaften und in der Technik abschätzen zu können. Es hilft mir, das große Ganze hinter dem einzelnen Phänomen zu sehen. Es ist ein bisschen wie Geschichtsforschung, die sich mit den Gründen eines Krieges und mit seinen gesellschaftlichen Folgen auseinandersetzt und nicht nur Daten und Zahlen sammelt.

STANDARD: Ein sehr philosophischer Zugang. Glauben Sie, dass man Kindern, die Mathematik nicht so mögen, das Fach damit schmackhaft machen kann?

Constantin: Ich würde sagen, dass Mathematik aus dem Geistestrieb entspringt, Komplexität durch eine elegante Vereinfachung zu verkraften, dass demzufolge Mathematik auch die Basis für viele Technologien ist, die wir alle, also auch Kinder, täglich benützen: Handy, Fernseher, iPod, Spielkonsole. Und dass Mathematik hilft, zwischen Voraussetzung und Schlussfolgerung zu unterscheiden, was in sich eine allgemeine Bereicherung darstellt. Mathematik fördert eigenständiges Denken und demzufolge mehr Freiheit und Unabhängigkeit.

STANDARD: Das scheint aber an den Schulen nicht immer rüberzukommen?

Constantin: Ich glaube, dass der Mathematikunterricht zu sehr in die Breite und zu wenig in die Tiefe geht. Man verwechselt "viel" mit "vielerlei" . Ohne tieferes Verständnis haben die Schüler von der Mathematik ein sehr trockenes Bild. Es ist aber ein zutiefst falsches Bild.

STANDARD: Könnte man diesen Schülern nicht einfach erzählen, dass Mathematiker erfolgreiche Wissenschafter sind? Sie haben ja erst kürzlich einen Fördertopf des Europäischen Forschungsrates gewonnen und können damit ihre Forschungsarbeiten auf weitere fünf Jahre finanzie-ren ...

Constantin: Der Advanced Grant ist natürlich ein wichtiges, mit1,3 Millionen Euro gut dotiertes Fördermittel. Letztlich bleibt aber nach fünf Jahren nichts davon übrig außer die Forschungsleistung. Ein großer Schritt, aber auch danach muss es weitergehen. Es ist ein Mittel, keinesfalls ein Zweck.

STANDARD: In Österreich freut man sich aber sehr darüber, dass hier arbeitende Wissenschafter immerhin sechs davon gewonnen haben, die Universität Wien allein drei. Ist Patriotismus in diesen Fragen eigentlich der richtige Zugang? Ist es nicht eigentlich egal, wo Sie arbeiten?

Constantin: Im Prinzip schon. Meine nun geförderten Forschungsarbeiten habe ich schon vor vielen Jahren begonnen. Insofern war der Advanced Grant nicht ein Ergebnis meines Umzugs. Ich bin aber nicht zufällig hierher an die Universität Wien gekommen. Hier wird schon seit einigen Jahren versucht, mit Professuren Exzellenz aufzubauen und einen Forschungsschwerpunkt zu setzen. Daher wundert es mich auch nicht, dass Wissenschafter der Universität Wien die Hälfte der österreichischen Advanced Grants eingeworben haben. (DER STANDARD, Printausgabe, 09.02.2011)

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Wissen: Große Töpfe für Spitzenforscher

Eine der wesentlichsten Neuerungen des siebenten Rahmenprogramms für Forschung und Entwicklung der Europäischen Kommission (2007 bis 2013) war die Einrichtung des Europäischen Forschungsrats (European Research Council ERC). Hier wird wissenschaftliche Arbeit nach Wettbewerbsbedingungen gefördert. Vergeben werden Advanced Grants an Spitzenforscher aller Disziplinen (insgesamt 590 Millionen Euro) und sogenannte Starting Grants an Jungforscher mit mindestens zwei und maximal zehn Jahren Erfahrung als Postdoc (insgesamt ca. 528 Millionen Euro Budget). Die Grants gelten als europäische Pendants zum Wittgenstein-Preis und zu den Start-Preisen des Wissenschaftsfonds FWF. Nationale Kontaktstelle ist die Forschungsförderungsgesellschaft FFG. In der Statistik des ERC scheinen sechs Advanced Grants für Österreich auf. Zum Vergleich: Die Schweiz erhielt 21, Deutschland 45, Großbritannien sogar 53 dieser Fördertöpfe. (pi)