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Der König übt sein Wahrheitsspiel: Gert Voss.

 

 

 

Foto: Punz/APA

Wien - An der Art, wie Österreich in den vergangenen Tagen den Störenfried Thomas Bernhard seinem kulturellen Erbe einverleibt hat, mag man ermessen, wie die Zeit vergeht. Dem widersetzlichen Dichter hat man aus Anlass seines 80. Geburtstags die Giftzähne gezogen. Die abgeschmacktesten Vertreter des ihm verhassten Landes erklären sich noch posthum zu Freunden und Verbündeten: Auch so kann man einen Klassiker, mit Bertolt Brecht gesprochen, zu durchschlagender Wirkungslosigkeit verurteilen.

Doch da fällt vor dem Guckkasten des Wiener Akademietheaters der schwarze Vorhang der Heuchelei wie von Zauberhand bewegt herunter. Auf das durchscheinende Tuch hatte man soeben noch Bernards Geburts- und Todesdaten projiziert. An dem alten Schauspieler aber (Gert Voss), der in seinem Greisenasyl mit einem Hammer auf eine schwarze Bodenleiste klopft, um das Hervorhuschen ungebetener Mäusegäste zu unterbinden, prallt jede Frage nach der Zeit ab.

In Einfach kompliziert, dieser späten Widmungsarbeit für den genialen Nuschler Bernhard Minetti, kündigt ein alter Shakespeare-Darsteller den Theatervertrag mit der Welt auf: Er erklärt sich zu seinem eigenen, seinem besten Publikum. Voss, der vor der gekrümmten Wand des mit zweierlei Lackanstrichen verwüsteten Anstaltszimmers (Bühne: Karl-Ernst Herrmann) hockt wie ein hohnkrächzender Rabe, spielt mit seinem eigenen Schattenbild um die Wette. Er zieht die grandiosen Bernhard-Sentenzen ("Ich bin ein Genie / habe ich mir immer wieder gesagt ...") in die Höhe, als wollte er die Sätze wie Hosenträger bis an die Decke spannen.

Dieser Kauz, der sich die Beine massiert, um ihre Durchblutung zu fördern, verbeißt sich während dreier Szenen in die Betriebsgeheimnisse eines ebenso herrlichen wie grotesk nutzlosen Berufs. Die nicht enden wollenden Tage seines Lebensabends, angezeigt von einem altmodischen Wecker auf dem Tisch in der Zimmermitte, sind ausgefüllt mit einer Beweisführung: Der Schauspieler, der sich seiner Mittel zu gut bewusst ist, verfehlt notwendig den Darstellungszweck. Man dürfe nicht an Shakespeare denken, wenn man Shakespeare spielt. Und doch tut Voss nichts anderes, als sich mit Tänzelschritten und listigem Hyänenlächeln das Königsschnippchen zu schlagen: Er schielt nach dem Publikum, auf das er, indem er der Welt den Rücken kehrt, nicht zählen kann.

Bernhards ingeniöse Meditation über die Kunst und die ihr zugrunde liegenden Täuschungsmanöver ist "naturgemäß" ein Hochseilakt. Claus Peymanns Regie ist von vollendeter Musikalität: Sie bringt die Motive und Kantilenen dieses unendlich herzzerreißenden Stückes hellauf zum Leuchten. Sie vertreibt die Manierismen, die Voss' Spiel gelegentlich anzuhaften begannen wie Spinnweben, mit einem Hauch Klarheit.

Sie zeigt eine Bochumer Provinzknallcharge auf dem schwindelerregenden Gipfel ihrer eingebildeten Königswürde. Einen bis zur Unwürdigkeit spielwütigen Greis, der "Mausgift kaufen!" auf einen Notizzettel schmiert, als würde er soeben seine Abdankung unterzeichnen. Der eine Daguerrotypie seines Idols Schopenhauer an der Wand befestigt, um sich am Philosophen der Willensverneinung wie an seinem eigenen Abbild zu erfreuen.

Der König ohne Zukunft erlebt aber auch eine zarte, flüchtige Liebesgeschichte mit einem kleinen Mädchen (die entzückende Viktoria Niebauer), das ihm zweimal in der Woche die Milch in der Kanne bringt: Er funkelt das Wesen an wie eine Katze die Maus. Die Zeit steht still in Einfach kompliziert; der Schlusseinfall - ein Tonbandmitschnitt des ganzen Abends - verdammt den Darsteller seiner selbst zur immer neuen Überprüfung seiner Kunst, demnächst am Berliner Ensemble. Berechtigter Jubel für alle Beteiligten. (Ronald Pohl / DER STANDARD, Printausgabe, 14.2.2011)