Die von den Festwochen und der Wiener Burg koproduzierte Uraufführung von Peter Handkes Sophokles-Übersetzung "Ödipus in Kolonos" sperrt sich - trotz eines Titelhelden namens Bruno Ganz - raunend gegen die Theaterkunst.
Wien - Sophokles' antiker Ödipus in Kolonos, von Peter Handkes übersetzerischer Poesie mehr spitzwinkelig überschrieben als philologisch exakt nachgemalt, ist ein einziges zählebiges Abschiednehmen.
Der antike Dramatiker zählte ungefähr 90 Jahre, als er das Weihespiel schrieb. Er mochte also sein eigenes Ableben unmittelbar vor Augen gehabt haben, als er Ödipus, den schwellfüßigen Ehepartner der eigenen Mutter, den Vatermörder, Augenausstecher und verfemten "Tyrannen" der Stadt Theben, am Krückstock, mehr noch aber an der Schulter der treu sorgenden Tochter Antigone an einen felsigen Grund nahe Athen führte, um den Vielgeprüften, wild Verschmutzten auf der Mülldeponie der nahen Polis Athen fachgerecht zu entsorgen. Der Stachelbart (Bruno Ganz) trägt Kutte. Aus der schält er sich im Wiener Burgtheater, dem Koproduzenten dieses aschfarbenen, arg leiernden Aufsagespiels, wie aus einem Kokon. Doch der ganze Abend liegt ja im Grunde unter einer Art unzerreißbarer Antiken-Membran.
Das von Klaus Michael Grüber kalkstaubhaltig inszenierte Kolonos-Weihespiel flüstert: Rühr mich nicht an! Handkes tadellos tastende Freie-Vers-Akrobatik wird in die Tiefe eines Kalkwerks hinein-, selten aber aus diesem deutlich vernehmlich herausgesprochen. Was umso eher verwundert, als der Schweizer Wortabschmecker und Iffland-Ring-Träger Bruno Ganz Verse wie Nervennahrung aufzubereiten versteht: Als bekäme man den Sinn gebundener Rede mit bloßen Händen zu fassen.
Planen und Treppen
Doch Grübers Werk möchte wohlweislich nicht verstanden, nicht begriffen werden. Der deutsche Kunststar Anselm Kiefer hat ein Geviert aus Planen spannen lassen, auf denen erhabene Künstlerhände erdfarbene Gebrauchsspuren hinterlassen haben.
Die an Holzleisten befestigten Bahnen werden von Klemmen gehalten. Ein paar kahle Bäumchen lächeln in der Tiefe der sandigen Bühne aus einem Krägelchen von Ziegelschutt heraus. Das Fragment einer Treppe steht traulich aufgebockt - ein erfindungsreicher Geist muss sie in den Wiesengrund gegossen haben, denn an ihrer Unterseite klebt büschelweise Gras.
Aus dem Schnürboden rieselt indes ein stilles Sandfähnchen herunter: Die Schande Ödipus' - wenn sie denn eine ist, was von Sophokles/Handke füglich in Abrede gestellt wird - nötigt zu unausgesetzten Demutsstürzen in den altgriechischen Staub. Wahrlich, diese Inszenierung raunt und mahlt mit lahmer Zunge: Wenn du die Ehrfurcht niemals hast erlernt, du wirst sie nicht mehr erhaschen.
Ödipus dient sich den Anwohnern des urzeitlich unwirtlichen attischen Vorstadtteils Kolonos als besonders schutzwürdig an. Er führt göttliche Vorhersagen im Handgepäck, die im Tausch gegen gnadenreiche Asylgewährung dem Gemeinwesen der Polis zum Heil ausschlagen sollen. Ganz keucht und presst nun die gedehnt dahintrabenden, oftmals auch nur mit ihrer eigenen Modernität nachlässig kokettierenden Handke-Wörter - "Ihr Ortsaufseher!", "Von wessen Sperma stammst du?" - wie aus einer Staublunge hervor. Er wirft sie in eine Art Betroffenheitszentrifuge. Man möchte dem so furchtbar Gebeutelten ein gewisses Mitgefühl nicht versagen. Auch wenn sein Leid und sein Elend aus einer Tiefe der Zeit heraufkriechen, die man eigentlich für weggesperrt hielt.
Nun bewegt den Abend ein ganz unheiliger Hang zum kunstgewerblich Komischen. Der Chor im Eumeniden-Hain setzt sich aus vier zauseligen Alten zusammen: Kindisch greinende Wichtigtuer in Büßerhemden, die ihre bresthaften Leiber abgeknickt halten (Ignaz Kirchner) oder aufgekratzt umhertaumeln (Martin Schwab), als gäbe es im Pflegeheim, zur Feier der mythischen Stunde, ein zweites, nahrhaftes Dessert.
Und obwohl sich Ödipus nur entsühnt zum Sterben niederlegen will, suchen ihn allerlei Politiker heim, die sich des hinfälligen Greises bemächtigen wollen, um ihr trübes Süppchen zu kochen.
Gibt der ortsansässige König Theseus (Otto Sander mit passabler Mütze) noch ein trocken raunendes Bild moralisch einwandfreien Machertums, pflanzt sich der Verstellungskünstler Kreon (Johann Adam Oest), der, um seines Vorteils willen, Ödipus am liebsten ungesäumt heim nach Theben zerren möchte, in der Mitte auf und leiert im Habit eines angesäuselten Primararztes die berühmte Oest-Nummer herunter - das leutselige Schnarren und Schnäbeln eines kneipengeeichten Provinz-Mephistos. Was, in den richtigen Kontext versetzt, eine wahre Sternstunde bescheren könnte.
Eines der kompliziertesten Stücke der Antike wird aufgeführt - aber es bleibt merkwürdig weggesperrt. Es rollen die Donner, es zündet ein Magnesiumblitz. Ganz' Stimme schraubt sich vor seiner endlichen Verklärung noch einmal durchlässig in die Höh': "Oh du Licht, lichtloses . . ."
Es ist diese eine, berührende Mikrosekunde einer wie in Bernstein gefassten Inszenierung, die alle und alles, was ihr (und uns) zu nahe kommen könnte, wie aus Hochmut von sich wegstößt. Die das kehlige Röhren der Antigone (Birgit Minichmayr), das spuckende, elendsknirschende Flehen von Sohn Polyneikes (August Diehl) verhallen lässt - die mit ihrem eigenen kostbaren Material nicht spielen möchte und aus dem Mythos kein Theater machen kann.
Drei traurige Stunden, die auch ein gefrierendes Abendrot anzeigen: Es ist der Dämmer eines mit Ruhmesnamen wild herumjonglierenden Großtheaters, das sich seiner europäischen Hochrangigkeit nur noch dadurch versichert, indem es zusammenkauft, was vor 20, 30 Jahren einmal schön und hochbedeutsam war. Ein trauriger Abend, zu dessen Ausklang das Leading Team nicht mehr erscheinen wollte. Und das, nebst dem pflichtschuldigen Jubel, sogar Missfallskundgebungen für Bruno Ganz bereithielt. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.5.2003)