Nach dem Weggang ihres Gitarristen mussten sich die Britpop-Helden Blur für ihr Album "Think Tank" künstlerisch neu ausrichten. Chef Damon Albarn findet dabei nicht immer nach Hause. Oder zum Interview. Ein Lokalaugenschein in London.
London - Wenn es in der Nacht laut zugegangen ist, kann es sein, dass man am nächsten Tag leiser tritt. Sex & Drugs & Rock 'n' Roll sind schließlich auch noch ein halbes Jahrhundert nach ihrer Erfindung ein vor allem für junge Männer absolut erstrebenswertes Berufsziel. Haarspitzenkatarrh am Morgen danach inklusive.
Deshalb werden die aus der ganzen Welt nach London eingeflogenen Journalisten anlässlich der Präsentation des neuen Blur-Albums Think Tank bei exklusiven Clubkonzerten vor dem Interview alle zehn Minuten mit hinhaltenden Depeschen versorgt.
In der Schickimicki-Hölle von Convent Garden, dort, wo man Designer-Armyjacken mit dem Aufdruck "Punk Royal" für den Gegenwert eines Grundstücks in Lunz am See erwerben kann, soll immerhin Damon Albarn befragt werden. Mit seinen 35 Jahren ist der ein großer Veteran des Britpop-Booms aus den 90er-Jahren. Bloß, Damon ist noch nicht da. Aber gleich. Aber dann. Bitte melde dich!
Die Damen von der Plattenfirma werden nervös. Damon Albarn, der nach dem Ausstieg seines kongenialen Gitarristen Graham Coxon nunmehr alleinige künstlerische Kopf von Blur, sei zwar heute Nacht nach dem zweiten von fünf Konzerten im Club um die Ecke und einer weiteren längeren Nachbesprechung wieder nicht ins Bett gekommen. Dafür aber sei er gerade aufgestanden.
Es ist sogar so: Damon Albarn befindet sich schon auf dem Weg zum Hotel! Was bedeutet, dass es sich noch etwas verzögern könnte, weil, wir alle kennen das, Stau in der City! Da eine halbe Stunde später der Meister nun endlich vor Ort eingetroffen scheint, aber unauffindbar ist, sein Management aber jemanden kennt, der ihn noch vor Stunden guten Mutes in einem Trinklokal gesehen und eine gute Nacht gewünscht hat, werden uns Schlagzeuger Dave Rowntree und Bassist Alex James schließlich versichern, dass Damon zwar wohlauf, aber schlecht beieinander sei. Kurz, Damon werde nicht kommen. Das Konzert am Abend sei aber nicht in Gefahr. Cheers!
Das "Interview" beginnt. Man hat nicht ewig Zeit. Lästiges Medienpack. Da macht man nach sechs Jahren wieder eine neue Platte. Wirft dabei den wichtigsten Musiker, den Gitarristen raus, dem die neue Richtung nicht gefällt. Man nähert sich menschlich wieder mühsam seinem egoistischen Sänger an. Mit dem hatte man jahrelang keinen Kontakt, weil der in der Zwischenzeit mit den Gorillaz und zurückgelehntem Dancefloor-Pop eine zweite und ungleich erfolgreichere Karriere als mit Blur machte und nebenher eine beispielhafte World-Music-Platte mit Musikern aus Mali einspielte. Und schon wollen alle wieder was!
Hallo und tschüss!
Immerhin sei man selbst auch verkatert und müsse dagegen etwas unternehmen. Fragen zu stellen sei nicht nötig. Bitte, danke. Man kenne alle Antworten sowieso. Schön jedenfalls, dass ihr alle gekommen seid, wir müssen leider schon wieder gehen.
Blur sind aus dem großen Streit mit ihren proletarischen Kontrahenten von Oasis trotzdem als große Sieger des Britpop hervorgegangen. Mit Alben wie Parklife, Hits wie dem das heutige Elektropop-Revival schon 1994 vorwegnehmendem Boys And Girls und dem überkandidelten Gitarrenpunk-Kracher Song 2 ("Woo hoo!") aus 1997 sorgte die laut Eigendefinition "eklektizistische Band" immerhin über ein Jahrzehnt lang für den nötigen Gegengehalt zu den Hohlbirnen von Liam und Noel Gallagher und ihren Lennon/McCartney-Blaupausen.
Und auch der radikale Stilwechsel des neuen Albums Think Tank Richtung Weltmusik und experimentelle Laborsituation ist ein mutiger. Neue Stücke wie Ambulance oder die aktuelle Single Out Of Time beweisen, dass eine Abkehr vom melodieseligen Gitarrenpop und den bei Ray Davis und den Kinks in den 60er-Jahren abgeschauten Harmonien Früchte tragen kann, die diesen Früchtchen gut zu Gesicht stehen.
Wie auch das Konzert des live auf neun Musiker aufgestockten Resttrios unter Beweis stellte: Es klappt ganz ausgezeichnet. Zwar schrammt die autodidaktische Zweifingergitarre vom auch beim Konzert schon tüchtig geladenen Damon Albarn mitunter knapp am Dilettantismus vorbei.
Der im Dub-Reggae geerdete Bass, die harten Funkrhythmen, ein quengelndes Kinderkeyboard und drei schwarze Background-SängerInnen sorgen allerdings auch dank einer selten gehörten Lautstärke für eine Wucht, wie man sie zuletzt bei den US-Talking-Heads (Remain In Light) in ihrer afrikanischen Phase um 1980 gehört hat.
Aufgenommen wurde das Album unter schwierigsten Bedingungen in Marokko. Zentrale Aussagen des Interviews dazu: "Reisen und Drogen werden im Alter immer anstrengender." Und: "In Marokko gibt es gute Geräusche, wenn man mit einem Stock auf bestimmte Dinge schlägt. Zum Beispiel auf Esel."
Der Rest: Schlaft euch mal aus. Danach: Weitermachen! Tolles Album. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.5.2003)