Wolfgang Mühlberger (41) ist Nahost- und Nordafrika-Experte am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) der Landesverteidigungsakademie in Wien.

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Fundamentalisten werden nicht an die Macht kommen, sagt er im Gespräch mit Gianluca Wallisch.

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STANDARD: Wie kam es eigentlich wirklich zu den Protesten und zum Umsturz in Tunesien?

Mühlberger: Ein wichtiger Faktor war die aggressive Bildungspolitik, die über die Jahre viele Akademiker produzierte. Für sie gab es aber keine passenden Jobs. Auch die massive Selbstbereicherung des Ben-Ali-Clans gehörte dazu, weil das durchaus solide Wirtschaftswachstum in nicht ausreichendem Ausmaß bei der Bevölkerung ankam. Ursprünglich führten also ökonomische Missstände zu den Spannungen, die letztlich erst durch die Repressionen der Polizei eine politische Dimension bekamen.

STANDARD: Wer sind die Menschen, die in den vergangenen Tagen aus dem Land flüchteten?

Mühlberger: Es handelt sich vor allem um Personen, die die wirtschaftliche Lage als nachhaltig hoffnungslos empfinden. Politische Forderungen, etwa nach demokratischer Partizipation, können ja relativ schnell erfüllt werden, ökonomische Änderungen greifen aber erst nach Monaten oder Jahren. Das dauert diesen Menschen zu lange. Dass darunter auch Personen sein könnten, die mit dem Regime kollaborierten, kann man nicht ausschließen, aber dazu gibt es noch keine verlässlichen Informationen.

STANDARD: Welche Aufgabe kommt jetzt auf die EU zu?

Mühlberger: Das Wichtigste ist eine Reform des Justizapparats. Nur wenn die Korruption effizient bekämpft wird, kann echtes Recht gesprochen werden. Die EU sollte sich nicht auf die Frontex-Finanzierung beschränken, sondern die Chance zur Demokratisierung ergreifen - auch durch konsequente Bedingungen für die Hilfe.

STANDARD: Wie groß ist die Gefahr, dass nun fundamentalistische Kräfte an Einfluss gewinnen?

Mühlberger: Zwei Mythen zerbröckeln jetzt, nämlich: "Säkularer Herrscher versus Islamisten" und "Islamisten sind Terroristen" . In Ägypten haben sich die Muslimbrüder sehr zurückgehalten, ebenso ihre tunesische Variante En-Nahda (Wiedergeburt). Sie ist traditionalistisch, kann bei Wahlen aber keine absolute Mehrheit erringen, weil der urbane, westlich orientierte Bevölkerungsanteil größer ist. Alle Gruppierungen stehen jetzt vor einem "Reality Check" : Sie müssen sich in einer Demokratie behaupten, in der jeder mitreden kann. Letztlich wird die Stimme des Volkes sprechen.

STANDARD: Könnte Tunesien ein politischer Vorreiter werden?

Mühlberger: Tunesien ist bereits ein Vorreiter, sonst wäre es auch nicht so schnell zum Umsturz in Ägypten gekommen. Und wenn die Libyer und die Algerier sehen, dass sich hier etwas Positives entwickelt, dann wollen sie es auch haben. Dieser Prozess wird sich über die nächsten drei bis fünf Jahre ziehen und ist eindeutig von Tunesien ausgegangen. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.2.2010)