Wien - Für seine Anhänger ist er einer der einflussreichsten Reformer des 20. Jahrhunderts, für seine Kritiker autoritärer Wegbereiter einer völkischen Pseudoreligion. Sicher ist: Das Werk des vor 150 Jahren geborenen Österreichers Rudolf Steiner hat Spuren hinterlassen. Die von dem Philosophen begründeten Waldorfschulen sind heute in mehr als 60 Ländern vertreten, mit seiner Suche nach dem Sinnlichen in allen Bereichen - von der Wissenschaft über die Landwirtschaft bis zu Medizin und Kunst - hat er der Bio- und Esoterik-Welle den Boden bereitet.
Steiner wird am 27. Februar 1861 in Kraljevic - damals Österreich-Ungarn, heute Kroatien - als Sohn niederösterreichischer Eltern geboren. Er ist hochbegabt, liest mit 16 Jahren Kant. In Wien studiert er Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie. Er beschäftigt sich intensiv mit Johann Wolfgang von Goethe, vor allem mit dessen in der Öffentlichkeit weniger bekannten naturwissenschaftlichen Abhandlungen. Von 1889 bis 1896 arbeitet er auch am Goethe-Archiv in Weimar.
Anthroposophische Gesellschaft
Anschließend intensiviert er seine journalistische Arbeit und übersiedelt nach Berlin. 1902 tritt er der indisch-orientalisch ausgerichteten Theosophischen Gesellschaft bei. Auf die anfänglich rasche Karriere Steiners innerhalb der Gesellschaft folgen bald Differenzen, die schließlich im Ausschluss des Philosophen münden.
1913 gründet er deshalb seine eigene, Anthroposophische Gesellschaft. Mit seiner Lehre reagiert er auf die damals neuen wissenschaftlichen Theorien, vor allem die Relativitätstheorie und die moderne Psychoanalyse, mit denen sich die Wissenschaft von der sinnlichen Erfahrung immer mehr entfernte. Steiner versucht mit der Anthroposophie eine alternative Wissenschaft zu etablieren, in der auch das Geistliche einen Platz haben soll. Er findet mit seinen Ideen viele Verehrer, darunter so prominente wie Franz Kafka, Stefan Zweig, Christian Morgenstern oder Else Lasker-Schüler.
Er stößt damit allerdings auch auf teils harsche Kritik. Kurt Tucholsky verschmäht Steiner in einem Kommentar als "Christus des kleinen Mannes", der "wolkiges Zeug" verzapfe. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung begreift Steiners Anthroposophie heute noch eher als "Stand-up-Okkultismus, einen ultraspätromanischen Poetry Slam: Wissenschaft der Form nach, an sich aber Mysterienspiel und Gesamtkunstwerk".
Plastiker, Maler und Sprachgestalter
Schlimmer noch, auch Nationalismus und Rassismus werden ihm vorgeworfen. In einer niederländischen Studie, die von der Anthroposophischen Vereinigung in Auftrag gegeben worden war, wird er 1998 allerdings vom Vorwurf des Rassismus freigesprochen. Sein Werk enthalte jedoch "diskriminierende Äußerungen", Zitate wie "Selbst die Neger müssen wir als Menschen ansehen" sollten "nicht mehr unkommentiert weitergegeben werden", so die Wissenschafter.
In vielen Tausenden Vorträgen führt Steiner seine Ideen aus, die er allerdings immer nur als Anregungen, nie als Dogmen verstanden wissen wollte. Dennoch wird die Anthroposophie zu seinen Lebzeiten als sektiererische, autoritäre Bewegung dargestellt. Dabei hatte Steiner gerade wegen derartiger Auswüchse die Theosophische Gesellschaft verlassen und bei der Gründung seiner Anthroposophischen Gesellschaft in den Statuten explizit festgehalten: "Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab."
Es folgt eine Zeit, in der Steiner intensiv als Plastiker, Maler und Sprachgestalter arbeitet. Als Architekt hat er sich mit dem Gotheaneum im schweizerischen Dornach verwirklicht. Das von Steiner entworfene Zentrum der Anthroposophen war damals eines der ersten organisch gestalteten Gussbeton-Bauwerke der Welt. Für das eigene Mysterientheater, in dem die von Steiner mitentwickelte Tanzform der Eurythmie gezeigt wurde, entwarf er unterdessen einen phantastischen, neogotischen Bau.
Naturkosmetik
1919 begründet Steiner in Stuttgart die erste Schule, in der nach anthroposophisch inspirierter Pädagogik unterrichtet wird. Besucht wird sie von den Arbeiterkindern der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, was auch späteren Steiner-Schulen den Namen gibt. Die erste österreichische Waldorfschule entsteht erst in Wien.
Bereits 1921 begründet Steiner die Firma Weleda mit, wo anthroposophische Arzneimittel und Naturkosmetik hergestellt werden. Das Unternehmen ist auch heute noch führend im Bereich Alternativmedizin. Im Jahr darauf unterstützt Steiner die Gründung der anthroposophisch inspirierten Christengemeinschaft, einer Religionsgemeinschaft ohne offizielle verbindliche Lehre, die heute in mehr als 30 Ländern vertreten ist. 1924 folgen schließlich die ersten Demeter-Betriebe, die nach der von Steiner begründeten biologisch-dynamischen Landwirtschaft arbeiten. Am 30. März 1925 stirbt Rudolf Steiner in Dornach.
950 Waldorfschulen
Weltweit werden an 950 Schulen in mehr als 60 Staaten Kinder nach den Lehren Rudolf Steiners unterrichtet. In Österreich gibt es 16 Waldorfschulen mit rund 2.600 Schülern, wobei sich derzeit drei der Standorte noch im Aufbau befinden. Waldorfschulen gehören in Österreich zu den staatlich anerkannten Schulen mit Öffentlichkeitsrecht, ihre Zeugnisse sind also jenen staatlicher Schulen gleichwertig.
An den Waldorfschulen werden Kinder von der ersten bis zur zwölften Schulstufe unterrichtet, der Klassenverband bleibt während der gesamten Zeit erhalten. Anstelle von Ziffernnoten bekommen Waldorfschüler eine ausführliche schriftliche Beurteilung in allen Fächern sowie eine Gesamteinschätzung der Persönlichkeitsentwicklung. Sitzenbleiben ist in diesem System nicht vorgesehen. Die Schulzeit endet nach zwölf Jahren mit dem Waldorfabschluss. Wer die Reifeprüfung machen will, muss ein 13. Schuljahr an einer AHS anhängen oder extern maturieren. (APA)