Daniela Iraschko, die Torfrau des österreichischen Fußball-Vizemeisters Wacker Innsbruck, gewann am vergangenen Freitag bei der nordischen WM in Oslo eine Goldmedaille im Skispringen. Unter widrigen Wetterbedingungen setzte sie zwei Sprünge von jeweils 97 Metern in die Sprungbahn. - Gut für den Medaillenspiegel. Aber war da nicht noch etwas?

Zum einen: Die Übertragung im österreichischen Fernsehen war geprägt von männlichen Kommentatoren, aber wenig Peinlichkeiten. Nur einmal fand es der Co-Kommentator notwendig, auf die "hübschen Mädchen" hinzuweisen. Ansonsten stand deren Leistung im Zentrum professioneller Analysen. Man hatte insgesamt den Eindruck, dass hier in der Tat etwas Außergewöhnliches stattfindet. Selbst erfahrene, abgebrühte Bakken-Veteranen, wie ÖSV Springerchef Ernst Vettori oder der immer ehrliche Andi Goldberger zeigten sich ob des Erfolges dieser außergewöhnlichen Frau und Athletin nahezu gerührt.

Dazu kamen die im besten Sinne erfrischend naiv wirkenden Interviews, die Stellungnahmen der bewegten Eltern, der Papa mit altvaterischer, absolut logofreier Siebzigerjahre-Skihaube, freudig erregt, garantiert ungebrieft von irgendwelchen Sportpsychologen oder Mediencoaches ... und dann natürlich Daniela Iraschko selbst, aufgewühlt und fahrig, die kurz nach dem Sieg erklärt: "Und jetzt werd i schaun, dass i gsund werd, und dann Fußball spielen gehen". - Wohltuend authentische Bilder, unkalkulierte Aussagen,

All dies ließ einige Momente lang die Idee von einem anderen Sport aufblitzen, einem Sport, den Pierre de Coubertin, der große Ideengeber und Modernisierer der europäischen Bewegungskultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts vielleicht im Sinn gehabt haben mag: Sport als pure unspekulative Freude an der Bewegung, an der fair erbrachten Leistung, am Dasein schlechthin - und damit auch Lichtjahre von dem entfernt, was eine andere ehemalige Ikone des männlichen nordischen Sports zurzeit repräsentiert. Walter Mayer nämlich, einstiger Wasa-Lauf-Sieger, Spitzentrainer, Grundsteinleger des österreichischen Langlaufwunders, Besessener des schönen Ausdauersports, der, mittlerweile verzweifelt und aufgedunsen wirkend, demnächst zusammen mit seinem einstigen Paradeathleten Michael Botwinow, ganz andere Kämpfe in einer ganz anderen Arena - dem Gerichtssaal - auszufechten hat.

Prinzip der Vielseitigkeit

Ein letzter Punkt: Spitzenleistungen gleich in zwei Disziplinen (Fußball und Skispringen) - auch damit verweist Daniela Iraschko ins 19. Jahrhundert, in die Zeit Coubertins zurück. In eine Zeit, in der es durchaus noch üblich war, in mehreren Sportarten gute Leistung anzustreben. Adolf Schmal (1872-1919) etwa, der viel zu wenig bekannte österreichische Radsportler, gewann bei den ersten Olympischen Spielen in Athen gleich drei Medaillen und ging auch im Säbelfechten an den Start. Oder Karl Schäfer: Der geniale Eiskunstläufer (1909-1976) gewann sieben WM-Titel und zweimal Olympiagold - und schaffte quasi nebenbei sieben österreichische Meistertitel im Brustschwimmen.

Vielseitigkeit und Draufgängertum, das waren die Coubertin'schen Ideale des zeitgenössischen "sports-" und "gentleman". Coubertin selbst war ein Adeliger, ein Baron, der trotzdem das bürgerliche Ideal der Leistung ins Zentrum seines Lebensprojektes stellte: die Verwirklichung der Olympischen Spiele, die demnach primär als ein emanzipatorisches und pädagogisches Projekt gedacht waren.

Trotzdem sollten Frauen darin zunächst keine Rolle spielen. Coubertin war Zeit seines Lebens immer gegen die aktive Teilnahme von Frauen an olympischen Wettkämpfen. Frauensport sei "inesthétique" meinte er, konnte sich mit dieser Position jedoch nicht durchsetzen. Schon 1900 bei den Olympischen Spielen in Paris gingen erstmals Frauen an den Start. Gleichberechtigt waren sie damit aber noch lange nicht. Denn sogar noch letztes Jahr bei den Olympischen Winterspielen in Vancouver wurde das Skispringen der Frauen - und das, obwohl das Leistungsniveau bereits zweifellos extrem hoch war - aus fadenscheinigen Gründen nicht zugelassen.

Vor diesem Hintergrund hat Daniela Iraschko somit viel mehr erreicht als einen später kaum mehr wahrgenommen Eintrag in irgendwelche, bloß der nationalistischen Repräsentation dienenden Siegerlisten. Sie hat das riskante, bisher mit vermeintlich männlichen Attributen, wie etwa Mut oder Selbstüberwindung, besetzte Skispringen ein für allemal nicht nur symbolisch sondern auch real umgedeutet und damit dem Begriff "normal" eine neue Dimension hinzugefügt. Iraschkos WM-Sieg hat einen neuen Maßstab für Normalität im Sport gesetzt, der über das Skispringen, ja über das eigentliche soziale Terrain des Sports hinaus- und in das "reale" Leben hineinreicht und uns für einen Augenblick erahnen lässt, was es mit der Idee von einer egalitären Gesellschaft auf sich hat.(Rudolf Müllner, DER STANDARD Printausgabe, 28.2.2011)